Das Geheimnis des Nostradamus
Augäpfel aus den spröden, bleichen Masken. Menschen huschten geduckt durch die Gassen, schützende Tücher fest vor Nase und Mund gepresst. Die Gassen waren allmählich gesäubert und die langschwänzigen Ratten zogen sich dorthin zurück, wo Nahrung zu finden war.
Aber trotz aller Warnung hockten immer wieder Familien beisammen und schleckten mit Fingern Getreidebrei aus einem großen Topf, angetrunkene Söldner im Brustharnisch ließen einen Krug mit Wein kreisen oder Kinder drückten mit Dreckfingern an eitrigen Pusteln und Geschwüren.
Nostradamus notierte später:
Ich wurde von der Stadt Aix-de-Provence angestellt , um im Auftrag des Senats und der Bevölkerung den Ort von der Pest zu heilen. Sie wütete schrecklich und entsetzlich. Die Leute starben, wie man es noch nie erlebt hatte. Während des Essens und des Trinkens. Die Friedhöfe waren derart mit Leichen überfüllt, dass sich bald kein Platz mehr finden ließ, um die Toten in geweihter Erde beizusetzen. Die meisten Kranken fielen am zweiten Tag in Wahnsinn und Raserei. Diese bekamen keine Beulen. Bei anderen hingegen zeigten sich die Pestbeulen. Sie starben ziemlich rasch, manchmal während sie noch redeten. Unmittelbar nach ihrem Tode war der ganze Körper mit schwarzen Beulen bedeckt. Die anderen, die in Wahnsinn starben, besaßen einen Urin, der aussah wie Weißwein. Nach ihrem Tod war die Hälfte des Körpers so blau wie der Himmel. Das gestockte Blut hatte sich unter der Haut angesammelt. Der Kontakt mit den Kranken war so gefährlich, dass jeder, der sich ihnen auf fünf Schritte näherte, krank wurde. Mehrere von ihnen hatten auf der Brust und auf dem Rücken und an den Beinen den Brand. Der Rücken war schwarz wie Kohle… Anfänglich überlebte keiner die Seuche. Die »Ernte der Menschheit« im wahrsten Sinne des Wortes fand statt. Der Sturm der Krankheit war so entflammt, dass es kaum ein Entrinnen gab… Viele jener Pestkranken, die sich wie Wahnsinnige gebärdeten, stürzten sich in den Brunnen. Andere sprangen aus dem Fenster in die Tiefe auf das Straßenpflaster. Schwangere Frauen verloren ihr Kind vorzeitig und starben am vierten Tag danach. Fand man ein plötzlich verstorbenes Kind, dann war der kleine Körper über und über violett, als hätte sich das ganze Blut in der Haut verteilt. Die Verzweiflung war so groß, dass man häufig mit Gold und Silber in den Händen starb, ohne noch einen Schluck Wasser dafür zu bekommen. Als ich anfing, den Kranken Medikamente zu verordnen, brachte man sie zu mir, in einem so erbärmlichen Zustand, dass viele noch mit dem Medikament im Mund starben. Es war in der Tat ein schwieriges Amt für den Arzt…
Es gab kein Mittel, das der Pest wirkungsvoller vorgebeugt hätte als meine Methode. Alle, die mein Mittel bei sich hatten und es kauten, blieben verschont. Gegen Ende der Epidemie ließ sich dann auch in einem Experiment bestätigen, dass dieses Mittel tatsächlich vor der Ansteckung bewahrt.
An diesem Morgen blitzten die ersten Schneeglöckchen durch die dünne Schneedecke, die allmählich in wässrigen Kristallen zusammenschmolz. Die Wintersonnenwende war längst vorüber und das neue Frühjahr ließ zartgrüne Knospen und Blütenspitzen austreiben. Marie trocknete sich gerade am offenen Kaminfeuer die frisch gewaschenen Haare und fuhr sich mit der Haarbürste durch die nassen Locken, als sie fernes Pferdegetrappel hörte. Ob das vielleicht der Bote war, der endlich ein Schreiben von Monsieur Bandon und Lucie aus Bordeaux brachte? Barfuß lief sie über die Holzbohlen zum Fenster und schaute die enge Gasse hinunter, die an hoch aufragenden Burgmauern vorbeiführte. Blanke Pflastersteine schimmerten karg durch letzte Schneepfützen. Der Unrat war gottlob längst beseitigt. Pesttote, die auf den Friedhöfen außerhalb der Stadt ihre letzte Ruhe fanden, gab es schon lange nicht mehr. Das Leben in Aix war wieder zur Ruhe gekommen. Auch die Mitglieder des Senats waren von ihren entfernten Landsitzen zurückgekommen, widmeten sich wieder ihrer Arbeit und besuchten das neue Badehaus, das ganz in der Nähe des Justizgebäudes und des bischöflichen Palais eröffnet worden war. Sie entspannten sich in duftenden Wasserzubern, während der Barbier ihnen Bärte und Kopfhaar stutzte und sie von lästigen Läusen befreite. Andere ließen sich von drallen Italienerinnen verwöhnen. Sogar der Bischof sandte wieder nach den hübschesten Dirnen, um ihnen das Absolvo Te, die entlastende Beichte für
Weitere Kostenlose Bücher