Das Geheimnis des perfekten Tages (German Edition)
Jahrtausendelang war es die Hauptsorge des Menschen im Kampf um Nahrung, Wohnstatt und Gesundheit möglichst lang zu überleben. 30 Jahre galten als Erfolg. Heute, da das Durchschnittsalter gegen Hundert tendiert und Wohnung, Essen oder Kleidung als Grundrecht garantiert sind, machen wir uns Gedanken über Laktoseintoleranz, Schnupfenepidemien oder Besenreiser.
Das Handy klingelt. Meine Mutter. Sie liest ebenfalls Zeitung und ist beunruhigt, da sie gerade einen Artikel gelesen hat, in dem Forscher darauf hinweisen, dass Menschen, die über eine Stunde am Tag mit dem Handy telefonieren, eine um 40 Prozent höhere Hirntumorrate aufweisen als Menschen, die ohne Fernsprecher kommunizieren. Die sterben allerdings wahrscheinlich an Stimmbandkrebs, weil sie so laut schreien müssen, wenn sie mit ihrer Mutter im Nachbarort reden wollen. Oder sie erschießen sich, weil sie einsam sind. Aber egal.
40 Prozent! Das klingt verheerend! Meine Mutter ist der Meinung, dass ich weit über eine Stunde am Tag mit dem Handy telefoniere und deshalb bald sterben werde.
Ich habe mich bisher nicht bedroht gefühlt durch Handystrahlung. Der Anruf meiner Mutter aber beweist, dass der Artikel seinen Zweck erfüllt hat. Die Leser sorgen sich und begreifen ihre Zeitung als Lebenshelfer. Allerdings würde es meiner Mutter besser gehen, wenn sie den Artikel nicht gelesen hätte. Sie befindet sich in einem Zustand seelischer Erregung. Sie will ihre Brut schützen. Mutter fordert deshalb von mir Verzicht. Ich solle das Festnetz benutzen. Leider kann ich meinen Festnetzanschluss nicht mit nach draußen nehmen. Ich könnte eingehende Anrufeauf mein Handy umleiten. Dies allerdings würde meine voraussichtlich tödliche Strahlenbelastung nicht verringern.
Ich versichere meiner Mutter, dass ich nie wieder ein Handy benutzen werde, und drücke den roten Beenden-Button. Da meine Mutter nicht einmal ein schnurloses Telefon zu Hause hat, verfügt sie nicht über ein Display, das meine Mobilnummer anzeigen könnte. Ich werde einfach in Zukunft am Telefon meiner Mutter gegenüber behaupten, ich würde das „Schnurtelefon“ benutzen. Für meine Mutter ist ein Kabel nämlich eine „Schnur“. Sollte sie am Klang erkennen, dass ich gerade im Auto sitze, werde ich behaupten, ich hätte mir einen dieser Fernsprecher zugelegt, die über eine extrem lange Schnur verfügen.
Handystrahlung ist das perfekte Zeitungsthema für Tage, an denen sonst nicht viel los ist. Eine Bedrohung ist immer dann am schönsten, wenn sie nicht sichtbar ist. Und Handystrahlung ist unsichtbar! Perfekt! Man meint, dass es schon beim Lesen überall kribbelt, bloß weil das Handy in der Nähe liegt. Es juckt am Ohr, am Arm, am Gesäß.
Als Hobbyhypochonder habe ich zwar meine Mutter beruhigen können, bin aber selber völlig aufgedreht und beginne gleich mit der Recherche im Internet. Sie ergibt, dass die Studie im Einzelnen besagt: Normalerweise sterben etwa fünf von 100.000 Menschen an Hirntumoren, unter Vieltelefonierern (> 1 h/Tag) sind es sieben, unter Wenigtelefonierern (< 1 h > 0 min/Tag) interessanterweise nur vier! Man könnte an dieser Stelle, statt von einer Steigerung der Krebsrate zu faseln, darauf hinweisen, dass dies eine Steigerung von fast null zu so gut wie nichts bedeutet – und dass Steigerungen dieser Art statistisch nicht signifikant sind, weil sie viel zu klein sind und somit rein zufällig. Wer mit dem Zollstock Mikrometer messen möchte, sollte mit Schwankungen rechnen.
Oder man könnte darauf hinweisen, dass Telefonieren unter einer Stunde täglich krebsvermeidend wirkt, was aus den gleichen Gründen ebensolcher Blödsinn wäre, aber genauso richtig. Man tut es nicht. Der positive Mensch ist nämlich im Rahmen der Evolution ausgestorben. Er saß vor seiner Höhle, glaubte an das Gute im Säbelzahntiger und wurde gefressen. Nur die Misanthropen und Paranoiker überlebten. Heute arbeiten sie als Journalisten.
Die Mordrate in Honduras beträgt übrigens 86 zu 100.000. Sollte man da nicht besser in Deutschland telefonieren, bevor man sich in Mittelamerika über den Haufen schießen lässt? Oder sollte bei uns mehr gemordet werden, damit möglicherweise Hirntumorgefährdete vor ihrem Martyrium bewahrt werden? Schwer zu sagen.
Man sollte allerdings auch nicht vergessen, wie viele Leben durch schwer strahlende Mobilfunkgeräte gerettet wurden. So ein Handy ist immerhin ein Notfalltelefon in der Hosentasche. Früher musste man sich erst irgendwo da draußen eine
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