Das Geheimnis des Roten Ritters
dann, dass ihr Vetter den Geldsack für sie verwahrte. Was würde der Räuber mit ihm anstellen, wenn er ihm das Geld nicht gab?
Nicht geben konnte!
Johanna lief zu Hagen zurück, richtete ihn auf und schüttelte ihn. »Hagen!«, rief sie. »Hagen, wach doch auf. Wir müssen etwas
tun!«
Ihr Bruder öffnete für einen Moment die Augen. Konnte er sie erkennen? Verstand er, was sie sagte? Sie strich ihm die langen
Haare aus der Stirn und drückte ihren Mund an sein Ohr.
»Ich muss gehen, Hagen«, raunte sie. »Ich muss zum Kloster, um Georg zu warnen. Aber ich komme wieder, verstehst du?«
Hagen antwortete mit einem kaum merklichen Nicken. Da ließ Johanna ihn wieder zu Boden sinken. Mit Tränen in den Augen gab
sie ihm einen Kuss auf die blasse Wange und stand auf.
An der Stalltür schaute sie sich noch einmal um. Ach, wenn es Hagen nun schlechter gehen sollte undsie dann nicht bei ihm war. Die ganze Geschichte war doch nur ihre Idee gewesen! Sie hatte den Einfall gehabt, Burg Felsenstein
zu verlassen, um ein bisschen von dem Festtagstrubel mitzubekommen. Ohne sie säße ihr Bruder jetzt sicher und gesund daheim
im Pferdestall, seinem liebsten Ort auf der Burg.
Doch dann verscheuchte Johanna alle Schuldgefühle. Sie hatte keine Zeit für solche Gedanken. Sie musste zurück zum Kloster!
Sofort!
Entschlossen trat sie hinaus auf den Hof und rannte zur Gaststube hinüber.
Schon auf der Schwelle kam ihr der Händler mit dem spitzen Hut entgegen. Natürlich! Wenn ihr jemand helfen konnte, dann dieser
Mann. Ihm lag doch sicher auch daran, dass der rote Reiter nicht entkam.
»Habt Ihr den Edelmann mit dem roten Umhang gesehen?«, sprach Johanna ihn an.
Der Händler verzog das Gesicht. »Edelmann? Ein schöner Edelmann ist das.«
In ihrer Aufregung packte Johanna den Händler an seinem schwarzen Gewand. »Ich muss hinter ihm her! Er ist auf dem Weg zum
Kloster. Bitte, könnt Ihr mir Euer Pferd leihen?! Es geht um Leben und Tod!«
Nachdenklich strich sich der Händler über den langen spitzen Bart. »Soso, um Leben und Tod. Um Leben und Tod geht es immer.
Das liegt in der Natur der Dinge.«
Johanna ließ den Rock des Mannes los. »Ich bitte Euch! Euer Pferd!«
Der Händler lächelte. »Ich habe kein Pferd. Wo ich hinwill, da komme ich auf Schusters Rappen hin. Und zwar immer noch rechtzeitig.«
Er zeigte auf seine spitzen Schuhe. »Auch der Eilige erreicht das Himmelreich nicht eher.«
Gequält stöhnte Johanna auf. Gütiger Gott! Warum war der Alte nur so umständlich? So kam sie nicht weiter.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Sagt, wisst Ihr zufällig, ob Ritter Karl von Felsenstein schon in Mainz angekommen ist? Er
ist mit einem ziemlich großen Tross unterwegs.«
»Nach Mainz wollen alle dieser Tage.« Der Händler schüttelte betrübt den Kopf und rieb sich die Hände. »Aber nicht alle kommen
an.« Doch dann musterte er das Mädchen genauer. »Bist du nicht Karls Tochter, Johanna von Felsenstein? Ich bin schon öfters
bei euch auf der Burg gewesen. Dein Vater ist ein guter Gastgeber. Er scheut sich nicht,mit Juden an einem Tisch zu sitzen, wie so mancher der christlichen Herren.«
Johannas Ungeduld wuchs. »Wisst Ihr nun, ob er schon angekommen ist, oder nicht?«, entfuhr es ihr.
Da endlich zeigte der Händler in Richtung der östlichen Zeltstadt, deren bunte Fahnen in etwa einer Meile Entfernung zu sehen
war. »Lauf nur zu. Dort hinten kannst du ihn finden. Ich habe vorhin seinen Knappen in diese Richtung reiten sehen.«
»Danke!« Johanna wollte davoneilen. Doch jetzt hielt der Händler sie am Ärmel fest. »Hör mal! Sag dem Kerl einen Gruß von
mir, wenn du ihn siehst!«
Das Mädchen versuchte sich loszumachen. »Wem? Waldemar?«
Der Händler lachte bitter auf. »Dietrich von der Rabenburg, meinte ich eigentlich. Ich wünsche dir viel Glück, mein Kind!
Du wirst es brauchen.«
Dietrich von der Rabenburg! Der Rote Ritter hatte also endlich einen Namen.
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Die Suche nach Hilfe
Johanna war erschöpft, als sie endlich in der Zeltstadt ankam. Aber mit jedem Meter, den sie sich ihren Weg durch das Menschengewimmel
bahnte, wuchs ihr Erstaunen.
Was hatte der Kaiser nur für großartige Zelte aufbauen lassen! Wie kleine Burgen sahen sie aus, mit runden Türmen und spitzen
Dächern, von denen die Fahnen wehten. Einige Spitzen waren mit Kreuzen versehen. Ob das die Zelte der Kirchenfürsten waren?
Die bunten Farben der Stoffe leuchteten in der Maisonne
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