Das Geheimnis des Spiegelmachers (German Edition)
Männern erzählen, die er in dem Keller belauscht hatte. Sie hatten über Tücher geredet, die vielleicht Unglück brachten. Der Bruder des Hausherrn hatte ein Tuch gekauft und dann Fieber und Beulen bekommen. Er war so schnell gestorben wie seine Brüder. Nik sah in das Gesicht seiner Mutter. In die Falten um ihre Mundwinkel hatte sich schon seit Monaten kein Lächeln mehr verirrt. Ihr Blick war von den vielen Tränen, die sie seit der Beerdigung vergossen hatte, ganz glasig geworden. Nik senkte den Kopf und blickte wieder auf seine blutenden Hände. Er vermisste die Fröhlichkeit und die Lebenslust, die früher in den Augen seiner Mutter geleuchtet hatten. Er wollte sie nicht auch noch mit seinen düsteren Vorahnungen und Verdächtigungen belasten. Für diesen Abend hatte er genug Kummer und Sorgen in das Haus gebracht.
Amilia kam herein und stellte eine Schüssel mit dampfendem Wasser auf den Tisch. Benthe war mit ihr in die Stube getreten und blieb lautlos wie ein Schatten mit dem Rücken an die Wand gedrückt stehen. Helena setzte sich auf einen Stuhl neben ihren Mann und faltete die Hände auf ihrem Schoß.
Die Knöchel an ihren Fingern leuchteten weiß im Licht der flackernden Tranlampen, die an den Wänden hingen und den Raum in warmes Licht tauchten.
Amilia beugte sich mit ihrem fülligen Oberkörper über den Tisch und begann, die Stoffstreifen abzuwickeln.
Immer wieder tauchte sie ein Schwämmchen in die Schale und wusch die Wunden an Niks Händen. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie dann seine zerrissene Hose.
»Ich bin gefallen«, entschuldigte er sich.
Amilia zuckte mit den Schultern. Sie hatte nie gefragt und sich nie beklagt, was auch immer er und seine Brüder im Laufe der Jahre angestellt hatten. Mit einem Messer schnitt sie die zerrissenen Hosenbeine ab, um auch die Knie von Glassplittern, Dreck und verkrustetem Blut zu reinigen. Die Stille dröhnte anklagend in Niks Ohren.
Dann kam der Wundarzt. Er verbeugte sich mehrmals vor Helena, die nur müde mit dem Kopf auf ihren Sohn deutete.
Der Mann stank nach Schweiß und Bier und seine fettigen Haare fielen ihm ins Gesicht. Nik lehnte sich auf seinem Stuhl so weit wie möglich nach hinten.
Der Wundarzt stellte seine Holzkiste auf den Tisch und öffnete sie. Nik betrachtete die Auswahl seltsam gebogener Instrumente, Gefäße und Klingen. Der Geruch von Eisen, Ruß und geronnenem Blut drang durch die schmutzige Dunstwolke des Medikus in seine Nase. Der Mann nahm nur die Schere heraus und schnitt von einem Lederlappen einige Streifen zurecht. Die legte er auf Niks Wunden an Händen und Beinen.Dann öffnete er einen Topf und trug mit den Fingern eine hellbraune Paste auf die Lederflicken auf. Nik schloss die Augen. Er roch Harz und etwas, das ihn an den beißenden Geruch von Zwiebeln und starkem Schnaps erinnerte.
Als Nik die Augen öffnete, war die Holzkiste wieder verschlossen, und der Wundarzt verabschiedete sich von seiner Mutter, die ihm einige Münzen zusteckte.
Nik sah enttäuscht auf seine Beine hinab. Es war kein Blut mehr zu sehen und die Lederstücke erinnerten im Licht der Öllampe, die auf der Tischplatte brannte, eher an schwarze Löcher auf seiner schneeweißen Haut als an Wundpflaster. Er hatte gehofft, endlich einmal einen erfahrenen Chirurgen bei einer Naht mit einem gewachsten Leinenzwirn oder einem Seidenfaden beobachten zu können. Aber als er an die schmutzigen Instrumente und den widerlichen Gestank des Mannes mit seinen verdreckten Händen dachte, war er froh über die Wundpflaster. Amilia griff nach der Wasserschüssel und trug sie hinaus. Hinter ihrem breiten Rücken kam Benthe zum Vorschein. Sie hatte es sich nicht entgehen lassen, einen Wundarzt bei der Arbeit zu beobachten. In ihrem Gesicht lag die gleiche Neugier, die auch tief in Nik brannte.
Nachdem Nik Benthe am nächsten Morgen in allen Einzelheiten von den Ereignissen der letzten Nacht erzählt hatte, waren sie stundenlang durch den Hafen gelaufen. Sie hatten sich weiter als je zuvor in das unübersichtliche Wirrwarr der Werften, Lagerhäuser und Stege gewagt und unzählige Seeleute nach englischen Schiffen und Reisenden befragt. Doch sie wurden von allen ignoriert oder zur Seite gestoßen, weil sie im Weg standen. Sie waren den Stegen bis weit auf das Wasser hinaus gefolgt und hatten gestaunt, wie seltsam still es zwischen den letzten Schiffen war. Der Wind blies ihnen ins Gesicht, und die Planken der Schiffe knirschten, wenn die Wellen sie gegen das Holz
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