Das Geheimnis des Viscounts
stand. Dann ließ sie sich geschwind von ihrer Zofe ankleiden und sprang gleich darauf mit Mouse die Treppe hinunter. Nachdem sie den Hund in Sprats Hände gegeben hatte, ging sie zum Frühstückszimmer und wappnete sich, ihrem Gatten entgegenzutreten.
Doch das Frühstückszimmer war leer. Einen Moment blieb Melisande ungläubig auf der Schwelle stehen. Der Tisch war abgeräumt, doch ein paar versprengte Krümel verrieten ihr, dass Jasper bereits gefrühstückt hatte und wieder fort war. Sie biss sich auf die Lippe. Warum hatte er nicht auf sie gewartet?
„Soll ich heiße Schokolade bringen lassen, Mylady?", fragte Sprat hinter ihr, der bereits mit Mouse zurückgekehrt war.
„Ja, bitte", murmelte sie, ohne nachzudenken. Doch dann überlegte sie es sich anders und fuhr so unvermittelt herum, dass der arme Lakai erschrocken zusammenzuckte. „Nein, lassen Sie stattdessen die Kutsche vorfahren, ja?"
Sprat schien verwirrt. „Jawohl, Mylady."
„Und sagen Sie Sally, sie soll in der Halle auf mich warten."
Der Lakai verbeugte sich und ging. Melisande trat an die Anrichte, wo Brötchen und Aufschnitt bereits serviert waren. Sie wickelte ein wenig Proviant in eine Serviette und begab sich zurück in die Halle. Sir Mouse hechelte aufgeregt hinter ihr her.
Sally wartete bereits auf sie. Gespannt blickte sie ihr entgegen. „Wollen Sie ausfahren, Mylady?"
„Ich dachte mir, ein Spaziergang im Park wäre doch schön", erwiderte Melisande munter. Sie schaute hinab auf Mouse, der artig bei Fuß saß und sie mit Unschuldsaugen ansah. „Sprat, wir nehmen wohl besser Sir Mouses Leine mit."
Der Lakai eilte zurück in die Küche, um die Hundeleine zu holen, und bald darauf saßen Hund und Frauchen nebeneinander in der Kutsche und fuhren in Richtung Hyde Park.
„Ein herrlicher Tag, nicht wahr, Mylady?", bemerkte Sally. „Strahlend blauer Himmel und Sonnenschein. Nur Mr Pynch meckert mal wieder rum. Wir sollten uns besser dran erfreuen, solange es hält, hat er gemeint, denn bald würde es wieder regnen." Das Mädchen runzelte die Stirn und schwieg einen Moment. „Der sagt andauernd schlechtes Wetter vorher. Mr Pynch, meine ich."
Belustigt musterte Melisande ihre Zofe. „Scheint mir einer von der verdrießlichen Sorte."
„Verdrießlich?"
„Düsteren Gemüts und schlechter Laune."
Die Miene des Mädchens hellte sich auf. „Ach, gar nicht mal, aber so furchtbar eingebildet ist er. Schaut auf alle herab und meint, er wäre was Besseres, wenn Sie wissen, was ich meine."
„Ah ja." Melisande nickte. „Rühmt sich seines Ranges."
„Ganz genau, Mylady!", rief Sally. „Er tut so, als wüsste er sowieso alles besser. Als ob man dümmer wäre als er, nur weil man jünger ist."
Daraufhin versank Sally abermals in stummes Brüten über den anmaßenden Kammerdiener. Melisande sah es mit Staunen. Für gewöhnlich war Sally ein fröhliches, ausgeglichenes Mädchen. So verstimmt und gereizt hatte Melisande sie noch nie erlebt — und schon gar nicht wegen eines kahlköpfigen Kammerdieners, der wohl ein Dutzend Jahre älter war als sie.
„Da ist schon Hyde Park", riss Sally sie aus ihren Gedanken.
Melisande warf einen Blick aus dem Fenster und stellte fest, dass sie bereits in den Park einfuhren. Es war noch früh, und zu dieser Stunde war es angenehm ruhig im Park. Nur ein paar Reiter waren zu sehen, ein oder zwei Kutschen und ein paar vereinzelte Gestalten, die sich in der Ferne ergingen.
Langsam rollte der Wagen aus. Der Schlag wurde geöffnet, ein Lakai spähte herein. „Ist es hier recht, Mylady?"
Sie hatten bei einem kleinen Ententeich gehalten. Melisande nickte. „Sehr schön. Sagen Sie dem Kutscher, er soll hier warten, während wir spazieren gehen."
„Jawohl, Mylady." Der Lakai half erst Melisande aus der Kutsche, dann Sally. Mouse kam hinterhergesprungen und hob sogleich das Bein an einem Busch.
Melisande räusperte sich. „Wollen wir hinab zum See gehen?"
„Wohin immer Sie wünschen, Mylady", kam es von Sally, die ihr mit einigen Schritten Abstand folgte.
Melisande seufzte. Es war natürlich schicklich und weithin üblich, dass die Kammerzofe nicht neben, sondern hinter ihrer Herrin ging, aber einem vertraulichen Gespräch war dies nicht gerade zuträglich. Doch der Tag war zu schön, um sich über derlei Petitessen zu ärgern, und so schritt sie forsch aus. Warum zu Hause sitzen und auf ihren Gatten warten, der ganz offensichtlich auch tat, was ihm beliebte? Nein, sie würde diesen Tag genießen,
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