Das Geheimnis des Viscounts
Mädchen starrte noch immer auf seine Schuhspitzen.
„Abigail", mahnte eine leise Frauenstimme. „Mach bitte einen Knicks vor der Dame."
Das Mädchen machte einen etwas ungelenken, doch allerliebsten Knicks, und Melisande drehte sich nach Mrs Fitzwilliam um. Sie war eine schöne Frau, mit golden schimmerndem Haar, großen blauen Augen und einem anmutig geschwungenen Mund. Obwohl etwas älter als Melisande, würde sie noch immer jede Frau, gleich welchen Alters, in den Schatten stellen. Kein Wunder eigentlich, dass der Duke of Lister sich eine so umwerfend schöne Frau zur Geliebten nahm.
Sie sollte weitergehen, sollte die Kurtisane keines Blickes, geschweige denn eines Wortes würdigen. Mrs Fitzwilliams stolzer Zurückhaltung nach zu urteilen, schien diese genau das zu erwarten. Melisande richtete den Blick wieder auf das kleine Mädchen, das noch immer starr zu Boden schaute. Wie oft hatte sie schon miterlebt, dass man ihre Mutter geschnitten hatte?
Höflich neigte Melisande den Kopf. „Ich bin Melisande Renshaw, Viscountess Vale."
Auf Mrs Fitzwilliams Gesicht zeigte sich Verwunderung, dann Dankbarkeit, ehe sie in einen tiefen Knicks sank. „Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen, Mylady. Ich bin Helen Fitzwilliam."
Melisande erwiderte den Knicks, und als sie sich wieder aufrichtete, fand sie den Blick des Mädchens auf sich gerichtet. Abigail lächelte. „Und wie heißt dein Bruder?"
Das Mädchen sah über die Schulter, wo sein Bruder am Wasser hockte und mit einem Stock in irgendetwas herumstocherte, das von Mouse eifrig beschnüffelt wurde. Melisande konnte nur hoffen, dass er es sich nicht in den Kopf setzte, sich gleich noch im Schlamm zu wälzen.
„Das ist Jamie", sagte Abigail. „Er mag alles, was stinkt."
„Mmm", meinte Melisande. „So wie Mouse."
„Darf ich mal gucken, Mutter?", fragte das Mädchen.
„Ja, aber mach dich bitte nicht genauso schmutzig wie dein Bruder", sagte Mrs Fitzwilliam.
Abigail schien beleidigt. „Natürlich nicht."
Vorsichtig ging sie schauen, was ihr Bruder und der Hund spielten.
„Sie ist ein hübsches Mädchen", bemerkte Melisande. Eigentlich war es ihr ein Gräuel, sich mit Fremden unterhalten zu müssen, aber sie ahnte, dass die andere es als Affront auffassen würde, wenn sie schwieg.
„Ja, nicht wahr?", meinte Mrs Fitzwilliam. „Als ihre Mutter sollte ich es vermutlich gar nicht bemerken, aber ich finde sie wunderbar. Die beiden sind meine Augensterne, der Sinn meines Lebens."
Melisande nickte. Sie wusste zwar nicht genau, wie lange Mrs Fitzwilliam schon Listers Geliebte war, aber mit großer Wahrscheinlichkeit waren es seine Kinder. Welch seltsames Schattenleben die Mätresse eines Mannes doch führte. Lister war verheiratet und hatte mit seiner Frau ein weiteres halbes Dutzend Söhne und Töchter, die allesamt schon aus dem Haus waren. Das war seine richtige , seine legitime Familie. Ob er Jamie und Abigail überhaupt als seine Kinder anerkannt hatte?
„Sie lieben den Park", fuhr Mrs Fitzwilliam fort. „Sooft es mir möglich ist, komme ich mit ihnen her, was leider nicht oft genug der Fall ist, denn ich bin ungern hier, wenn viele Leute da sind."
Sie sagte es nüchtern ohne jedes Selbstmitleid.
„Wie kommt es wohl, dass kleine Jungs und Hunde so versessen auf Matsch sind?", sann Melisande nach. Abigail hielt sich artig zurück, aber Jamie war aufgesprungen und stampfte gerade kräftig in den Schlamm, dass es nur so spritzte. Mouse bellte begeistert.
„Der Gestank?”, vermutete Mrs Fitzwilliam.
„Oder der Dreck?"
Kreischend sprang Abigail zurück, als ihr Bruder abermals in den Matsch hüpfte.
„Um ihre Schwestern zu vergraulen?"
Melisande schmunzelte. „Das könnte Jamies Faszination erklären, doch nicht die von Mouse."
Sie ertappte sich dabei, dass sie diese Frau gern zum Tee einladen würde. Mrs Fitzwilliam war ganz anders, als sie gedacht hatte. Sie heischte nicht nach Mitgefühl, schien nicht sonderlich mit ihrem Schicksal zu hadern, und sie hatte Humor. Sie würde eine wunderbare Freundin abgeben.
Aber ach, undenkbar natürlich, eine Konkubine zum Tee einzuladen.
„Wie ich hörte, sind Sie frisch verheiratet", sagte Mrs Fitzwilliam. „Darf ich meine Glückwünsche aussprechen?"
„Danke", murmelte Melisande und runzelte die Stirn, sowie sie an Jasper erinnert wurde und daran, wie er gestern Nacht von ihr gegangen war.
„Oft denke ich, dass es nicht leicht sein kann, mit einem Mann zusammenzuleben", sagte Mrs
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