Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Fenster. Gut möglich, dass er schon länger klopfte – bei der Musik war das kaum auszumachen.
Einen Moment lang befürchtete Greta, es sei der SUV -Fahrer, dem es nicht länger reichte, unhöflich dicht aufzufahren, und der seine Frustration jetzt direkt an ihr ablassen wollte. Anstelle eines aufgebrachten Mannes stand dort jedoch eine typische Hanseatin, adrett bis in die Haarspitzen und vielleicht zehn Jahre älter als Greta. Die Frau lächelte sie an, während Greta das Radio ausschaltete und die Fensterscheibe herunterließ.
»Ja?«
»Nun … Ich wollte bloß nachfragen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist?«
Die Hanseatin lächelte ein wenig mehr, was Greta zu denken gab. Wenn sich eine Fremde dermaßen bemühte, freundlich und beruhigend auf sie zu wirken, dann stimmte definitiv etwas nicht. Greta lächelte entschlossen zurück, obwohl das Pochen in ihren Schläfen dadurch schlimmer wurde. »Vielen Dank. Ich weiß, ich sehe grauenhaft aus, aber Sie brauchen sich meinetwegen keine Sorgen zu machen. Die Schramme auf meiner Stirn ist ein rein oberflächlicher Kratzer. Ein dummes Missgeschick, mehr nicht.«
Offenbar zerstreute ihre Antwort die Bedenken der Frau nicht, denn sie begann nervös an ihrem Halstuch herumzuzupfen. »Diese Verletzung sieht wirklich gefährlich aus«, stimmte sie zu. »Aber ich frage mich eher, warum Sie gerade zum zweiten Mal nicht gefahren sind, als der Verkehr auf unserer Spur weiterging. Jetzt werden wir wohl eine Weile stehen.«
»Bei uns ging es weiter?« Irritiert stellte Greta fest, dass kein einziges von den Autos, auf deren Rückseite sie ge fühlte Stunden lang gestarrt hatte, mehr zu sehen war. Nur der monströse SUV in ihrem Rücken war noch da. Es machte ganz den Eindruck, als sei es der Wagen der Hanseatin. Greta schluckte schwer. »Tut mir leid, ich war wohl in Gedanken …«
Die Hanseatin zog die Brauen hoch. »Sie meinen, Sie haben das Hupkonzert hinter uns gar nicht gehört?«
»Im Stau hupt doch immer irgendwer«, versuchte Greta die Tatsache zu überspielen, dass sie tatsächlich nichts von alldem mitbekommen hatte.
»Nun, ich möchte Ihnen vorschlagen, die Musik auszulassen und die nächste Abfahrt zu nehmen. Wenn Sie Hilfe brauchen, kann ich Ihnen gern folgen und bei Ihnen bleiben, bis jemand Vertrautes Sie abholen kommt. Sie haben doch sicherlich Freunde oder Familie?« In ihrer Stimme schwang Zweifel darüber mit, dass überhaupt jemand auf Gottes schöner Welt zu Greta gehörte – so verlassen, wie sie aussah.
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, aber meine Familie wohnt nur eine halbe Stunde von hier entfernt, und ich bin unterwegs zu ihr. Hören Sie, ich werde mich jetzt kräftig am Riemen reißen und weiterfahren, wenn die anderen fahren. Versprochen.«
Die Hanseatin blickte skeptisch drein, aber als sich Bewegung auf ihrer Spur abzeichnete, nickte sie und verschwand rasch zu ihrem Wagen, allerdings nicht ohne Greta zum Abschied noch rasch zu versichern, dass bestimmt alles gut werden würde. Das glaube ich nicht , dachte Greta, als sie den Motor anließ und zügig hinter ihrem Vordermann herfuhr. Nichts ist gut, und nichts wird so schnell wieder gut werden.
2
Vor einigen Jahrzehnten war Meresund noch ein Dorf in Schleswig-Holstein gewesen. Nachdem jedoch immer mehr Menschen aus dem Umland hinzugezogen waren, während die Bauernhöfe nach und nach verschwanden, konnte man mittlerweile von einer Kleinstadt sprechen. Die Familien in den Neubaugebieten wussten es zu schätzen, dass sie inmitten von Wiesen und Feldern wohnten, während Hafenstädte wie Kiel und Hamburg und somit das Meer nur eine kurze Autofahrt entfernt lagen. Den meisten Alteingesessenen Meresundern waren die Veränderungen allerdings nicht nur wegen der vielen Fertigbauhäuser ein Dorn im Auge. Für sie verkam ihr einst heimeliges Dorf zu einer Bettenburg, randvoll mit Leuten, die auf der Straße nicht grüßten und keine Zeit für Vereinsarbeit hatten, weil sie zu sehr mit der täglichen Pendelei beschäftigt waren.
Greta war sich nicht sicher, zu welcher Gruppe sie gehörte: zu den neuen oder zu den alteingesessenen Meresundern? Ihre Familie war aus Kiel zugezogen, als sie neun Jahre alt war, und trotzdem kannte sie das Dorf schon ihr Leben lang. Die Eltern ihres Vaters hatten hier ein Backsteinhaus mit Obstgarten und Kaninchenstall, wo sie als Kind fast alle Wochenenden und die Ferien verlebt hatte. Wenn Greta daran zurückdachte, kam es ihr so vor, als habe sie ihre
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