Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
Heimkommen, nach Geständnissen war ihr deshalb schon gar nicht zumute.
Als ihr Schwager auf das Wohnzimmer hinter der Doppeltür mit den verzierten Milchglasscheiben deutete, wehrte Greta ab. Das Stimmengewirr und die zahlreichen umhergehenden Schatten verrieten, dass nicht nur Familie und Freunde eingeladen waren, sondern das halbe Dorf – allen voran vermutlich die alteingesessenen Meresunder. Seit das alte Wirtshaus am Platz einem Supermarkt hatte weichen müssen, fanden sie selten Gelegenheit beizusammenzusitzen.
»Bevor ich die ganze Gästeschar begrüße, mache ich erst einen Abstecher in die Küche. Ich brauche dringend eine Stärkung.« Erfahrungsgemäß würden sich in der Küche die wirklich wichtigen Leute tummeln, solange Arjen eine Auszeit im Sessel nahm.
Irritiert über diese Abweichung im Ablauf blinzelte Till. Dann beschloss er, dass bei seiner Schwägerin eigentlich mit nichts anderem zu rechnen war. Gretas unkonventionelle Art war ihm genauso fremd, wie es ihr sein Rund-um-die-Uhr-Bankfilialleiter-Gehabe war. »Fein, wie du meinst. Dann sage ich den anderen schon einmal Bescheid, dass du nun doch noch eingetroffen bist. Wencke redet schon seit Stunden über nichts anderes als über deine Verspätung.«
Na, und warum hat meine liebe Schwester mich dann nicht persönlich in Empfang genommen, sondern ihren Stellvertreter geschickt? Greta ahnte warum: Wencke würde es deutlich befriedigender finden, sie vor versammelter Gästeschar anzupfeifen. Hastig lief sie zur angelehnten Küchentür, bevor Wencke noch auf die Idee kam, einen Blick um die Ecke zu werfen.
Wie erwartet hielt Anette sich in der Küche auf. Es war ihr Lieblingsplatz, denn während eines Familienfestes lag hier die Kommandozentrale. Zwischen Küchenbuffet und Eichenschränken wurde nicht nur frischer Tee aufgesetzt, Schlagsahnenachschub produziert und Abräumpatrouillen ausgesandt. Hier wurden auch die wirklich interessanten Gespräche geführt, während noch einmal die übriggebliebenen Sektflaschen kreisten. Später würde Anette dann entscheiden, wer ein paar Stücke Kuchen eingepackt bekam und wer am nächsten Vormittag auf eine Tasse Kaffee vorbeischauen durfte, um die Feier in Ruhe noch einmal Revue passieren zu lassen. Im Augenblick war sie jedoch damit beschäftigt, das blutende Knie ihres siebenjährigen Enkels Lars zu verarzten, während der Junge die Tränen auf seinen Wangen verrieb, damit keine verräterischen Spuren zurückblieben.
»Siehst du, Lars: Nichts mehr zu sehen von dem Kratzer. Das Pflaster deckt alles ab. Und wenn man nichts sieht, dann tut auch nichts weh«, erklärte Anette im Brustton der Überzeugung. »Geh jetzt wieder zu den anderen Rackern in den Garten, aber wenn ich noch einmal die verfluchte Klingel läuten höre, setzt es was hinter die Löffel.« Die Drohung nahm Lars allem Anschein nach nicht ganz ernst, denn er zuckte bloß mit den Achseln. Anette entging der Mangel an Zustimmung. »Braver Junge. Und mach einen Bogen um deine Mutter. Wenn Wencke das Pflaster sieht, regt sie sich bloß unnötig auf.« Lars bekam zum Trost noch einen Windbeutel in die Hand gedrückt, dann war er entlassen. Nach einem hastigen Nicken in Richtung seiner Tante machte der Junge sich durch die Seitentür ins Freie davon – so gut, wie man mit einem frisch aufgeschrammten Knie eben laufen kann.
Endlich bekam Greta ihre ersehnte Umarmung. Sie ließ sich tief in die Arme ihrer Mutter sinken, spürte die vertraute Nähe und atmete den Duft von Chanel No. 5, den Anette schon seit Ewigkeiten trug.
»Da bist du ja, mein Schatz.« Anette verlor kein Wort darüber, dass Greta später als angekündigt eingetroffen war, sondern schob sie in Richtung Anrichte. Fast rechnete Greta damit, hochgehievt zu werden wie der kleine Lars. Stattdessen positionierte Anette ihre Tochter so, dass sie inmitten des Durcheinanders einen Kuchenteller, eine Teetasse und ein randvolles Sektglas vor ihr platzieren konnte. Schlagartig bemerkte Greta, wie ausgehungert sie war. Auf der Fahrt hatte sie lediglich eine Packung Reiswaffeln gegessen, weil ihr nach ihrer Abreise aus Zürich der Magen geschmerzt hatte. In Anettes Gegenwart verflüchtigte sich endlich der unangenehme Druck im Bauch, den sie seit ihrer Abfahrt aus Zürich verspürte. Der Frankfurter Kranz stellte wirklich die reinste Versuchung dar … Trotzdem stürzte Greta erst einmal den Sekt hinunter, denn sie ahnte, dass es in der Küche nicht lange so friedlich bleiben würde. Schon
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