Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
würde.
Nicht, solange Ruben das Schicksal in seinen Händen hielt.
1
SEPTEMBER 2012
Seit zehn Minuten hatte sich auf der Autobahn nichts mehr bewegt – einmal abgesehen von dem SUV , der Gretas mit einem Schlag winzig erscheinendem Mietwagen noch einen Zentimeter näher kam. Sollte der Fahrer dieses Monstrums das Gaspedal auch nur mit der Fußspitze berühren, würde es unweigerlich zu einem Zusammenstoß kommen. Greta ertappte sich dabei, wie sie gebannt in den Rückspiegel starrte und fest mit einem heftigen Ruck rechnete, der sie in den Anschnallgurt drücken würde. Ihr Brustkorb verengte sich in vorauseilendem Gehorsam, während gleichzeitig Adrenalin durch ihre Glieder jagte.
Bleib ruhig, noch ist nichts passiert .
Doch das Kopfkino ließ sich nicht so leicht unter Kontrolle bringen und spann das Schrecksszenario weiter: Nach dem Rums würde der Fahrer heftig an ihr Fenster klopfen, um ihr die Schuld für den Auffahrunfall in die Schuhe zu schieben, während sie zu durcheinander wäre, um sich zur Wehr zu setzen. Das wäre dann die Krönung dieses grauenhaften Tages am Ende einer grauenhaften Woche.
Schon am gestrigen Mittag, als Greta vor der Ausgabe des Autoverleihs stand, hätte sie den VW Fox am liebsten stehen lassen und stattdessen den Zug in Richtung Kiel genommen. Nur wäre es dann unmöglich gewesen, all ihre Sachen mitzunehmen. Erik hätte sie ihr hinterherschicken müssen, und genau das hatte sie um jeden Preis vermeiden wollen. Von Erik Brunner wollte sie nichts mehr hören und sehen, nicht einmal seine Handschrift auf einem Paketschein. Als sie die Kartons mit rasch hineingeworfener Kleidung, zwei Bonsais, jeder Menge Bücher und Krimskrams im Wagen verstaut hatte, war sie sich plötzlich armselig vorgekommen. Sie war achtundzwanzig Jahre alt, und alles, was sie besaß, passte in einen VW Fox, der ihr nicht einmal gehörte.
Dann gibt es wenigstens nichts, das deinen Neustart belastet , hatte sie sich selbst aufzumuntern versucht.
Nur hatte sich der Neustart von der ersten Sekunde an als Albtraum erwiesen. Denn Greta besaß zwar einen Führerschein, aber so gut wie keine Fahrpraxis. In Zürich, das in den letzten drei Jahren ihr Zuhause gewesen war, fuhr man mit der Straßenbahn, und in Berlin, wo sie zuvor gelebt hatte, war sie stets mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Durcheinander und überreizt, wie sie nun einmal war, stellte die Fahrt von Zürich in den Norden Deutschlands eine Herausforderung dar, die sie nur gerade so bewältigte. Als die Nacht eingebrochen war, hatte sie sich eingestehen müssen, dass ihre Idee durchzufahren nicht funktionieren würde. Und so hatte sie ein paar Stunden im Autositz geschlafen, nur um mit dröhnenden Kopfschmerzen aufzuwachen. Am schlimmsten war jedoch der Traum gewesen, der ihr realer erschienen war als das im Halbdunkel liegende Waldstück hinter der Windschutzscheibe. Es war auch gar kein richtiger Traum gewesen, dazu ähnelte er viel zu sehr dem Abend, an dem Greta nachgegeben hatte. Mit pochenden Schmerzen hinter ihren Schläfen erinnerte sie sich …
Erik lachte.
Sein Schauspielerlachen , dachte Greta wie so oft, halb fasziniert, halb abgestoßen. Ein Mann sollte nicht auf diese Weise lachen, ganz auf die Wirkung bedacht und in dem Wissen, dass keine Frau seinem Charme würde widerstehen können. Letztendlich bildete auch sie keine Ausnahme. Die Anziehungskraft dieses klangvollen Gelächters in Verbindung mit Eriks gut geschnittenem Gesicht war stärker als ihr Argwohn, und Greta fiel mit ein, auch wenn ihrem Lachen etwas Aufgesetztes anhaftete.
Und warum hätte sie auch in Grübeleien versinken sollen? Der Sommerabend war lau, Lichter spiegelten sich auf dem Zürichsee, und das Plätschern der Wellen verlor sich fast bis zu der Terrasse, auf der sie saßen.
»Ich bin so froh, dass du dich endlich dazu entschieden hast, bei mir zu leben«, sagte Erik. »Ich stand schon kurz davor, härtere Geschütze aufzufahren und deine gesamte Familie nach Zürich einzuladen, damit sie dir erklärt, dass es einem Nordlicht wie dir auch in der Schweiz durchaus gefallen kann.« Mit diesen Worten wollte er sie in die Arme schließen und küssen, der krönende Abschluss für seine Bemühungen.
Greta wich seinen Lippen jedoch aus, von einer plötzlichen Unruhe erfasst. Der moderne Bau, der Eriks ganzer Stolz war, schien plötzlich näher zu rutschen, als wolle er sie erdrücken. Es ähnelte der Reaktion, die sie bei den Bergketten rings um Zürich überkam,
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