Das Geheimnis des Walfischknochens - Roman
einem der Kartons war Arjens Geburtstagsüberraschung untergebracht. Wie sollte sie die bloß in diesem Durcheinander finden? Dann kam ihr die Erkenntnis, dass es nicht ihr Geschenk war, sondern das von Erik und ihr, und sie knallte den Deckel zu. Sie würde dem Geburtstagskind etwas schenken, von dem sie beide zuletzt viel zu wenig gehabt hatten: gemeinsame Zeit. Seit sie zum Studieren fortgezogen war, hatte sie ihren Großvater nur selten gesehen. Sie hatten sich zwar oft Briefe geschrieben und telefoniert, aber Greta war zu eingespannt gewesen, um öfter nach Meresund zu reisen, und Arjen verließ sein Zuhause nur selten. Vermutlich weil es so schwierig war, Anettes Fürsorge zu entkommen.
Es ist ein Fehler gewesen, ich hätte häufiger hier sein sollen. Bei meiner Familie. Bei ihm. Jetzt ist er fünfundachtzig Jahre alt, und niemand weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt, in der er gesund und klar bei Verstand ist.
Entschlossen durchquerte Greta den Vorgarten, in dem Margeriten und Sonnenhut in der zusehends schwächer werdenden Herbstsonne standen. Neben der Türklingel brachte ihr Schein ein Messingschild zum Glänzen, das schon lange nicht mehr an dieser Stelle gehangen hatte. Es war Arjens Praxisschild, das er nach seinem Eintritt in den Ruhestand abgenommen hatte. »Wer von meinen ehemaligen Patienten meinen Rat gebrauchen kann, wird kaum vergessen haben, wo ich wohne«, hatte er mit seiner verschmitzten Art erklärt. Nun hing das Schild nicht bloß wieder, sondern hinter dem »Arjen Rosenboom, Allgemeinmediziner« war ein »a. D.« eingraviert worden. Ein kleiner Scherz, aber in erster Linie ein Zugeständnis an Arjens Zurückhaltung. Sogleich stand Greta das lebendige Bild vor Augen, wie ihre Mutter das frisch angebrachte Schild polierte und wienerte, während ihr Großvater kopfschüttelnd hinter ihr stand, halb über die Marotten seiner Schwiegertochter schmunzelnd, halb verärgert über die seiner Meinung nach unnötige Aufmerksamkeit.
Anettes Hingabe nimmt langsam, aber sicher wahnhafte Züge an , dachte Greta, bevor sie die Klingel drückte.
Die Eichentür wurde mit Schwung aufgerissen, und Greta zuckte zusammen, als ihr Schwager Till mit wütendem Gesicht auf sie zustürmte. Till Fröben , wie sie ihn im Stillen nannte, als wäre er nur ein Bekannter und nicht der Mann ihrer Schwester Wencke.
»Jetzt reicht es aber, ihr verflixten Nervensägen!«, drohte Till, ehe er erkannte, wer vor ihm stand. »Ach, du bist es bloß, Greta. Die Kinder haben sich zusammengerottet und spielen uns seit einer geschlagenen Stunde Klingelstreiche. Ich hoffe, sie gehen mit diesem Zeitvertreib nicht der gesamten Nachbarschaft auf den Geist.« Er warf einen demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr. »Dir ist schon klar, wie spät du dran bist, oder? Die Kuchentafel ist bereits geplündert, und Arjen hält ein Nickerchen im Sessel.«
Greta schüttelte die Hand ihres Schwagers, an dessen steife Art sie sich vermutlich nie gewöhnen würde. Es kam ihr vor, als ginge er mit ihr genauso unverbindlich um wie mit seinen Bankkunden. »Hallo, Till. Ich wäre auch gern schon viel früher da gewesen, aber die Fahrt von Zürich hierher ist nicht gerade ein Klacks. Und zu allem Überfluss habe ich noch eine Ewigkeit im Elbtunnel festgesteckt.«
»Tja, mit dem Umweg über die Landstraße ist man meist besser beraten, gerade am Samstag, wenn halb Hamburg an die Küste will. Den Tipp hätte ich dir jedenfalls gegeben, wenn du gefragt hättest. Wo hast du denn Erik gelassen, ist ihm beruflich was dazwischengekommen?«
Greta lächelte lediglich, was Till sogleich als ein »Ja« nahm.
»Schade. Ich hätte gern mit ihm geplaudert, wo er doch quasi ein Spezialist für grüne Geldanlagen ist. Das Thema kommt auch bei unserer kleinen Filiale immer mehr an, da wäre mir ein Insidertipp gerade recht gekommen, so von Schwager zu Schwager …«
Gretas Lächeln gefror, ohne dass Till es bemerkte. Immer noch über Eriks bemerkenswertes Fachwissen schwadronierend, begleitete er sie ins Haus. Einen unglücklicheren Empfang hätte Greta sich wirklich nicht ausmalen können. Dabei hatte sie gehofft, dass es Anette sein würde, die ihr die Tür öffnete. Nicht nur weil ihr eine überschwängliche Begrüßung mit Umarmung und Küssen gutgetan hätte, sondern weil sie auf diese Weise auch im Halbdunkel der Diele hätte verraten können, warum Erik nicht mitgekommen war. Aber mit Till Fröben an ihrer Seite verflüchtigte sich sogar das Gefühl von
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