Das Geheimnis meiner Mutter
erwuchs. Allerdings wurde uns von Anfang an gesagt, wenn eine erwachsene Frau, die schon öfter mal unangekündigt weggeblieben ist, verschwindet, dann vermutlich auf eigenen Wunsch.“
Jennys Mutter hatte eindeutig nicht gefunden und zurück in die kleine Stadt gebracht werden wollen, in der sie nie glücklich gewesen war.
Die Angst trommelte in ihrer Brust, und Jenny entschuldigte sich, um das Badezimmer aufzusuchen. Sie schluckte eine halbe Tablette ohne Wasser hinunter. Auf dem Weg zurück ins Esszimmer blieb sie vor der Tür im Flur stehen. Laura und Philip saßen über den Tisch gebeugt beisammen und unterhielten sich leise. Jenny spürte eine Intensität in ihren Stimmen, die sie innehalten ließ, weil sie das Gespräch nicht unterbrechen wollte.
„… ich wusste nicht, ob ich dich nach dem Sommer noch einmal wiedersehen würde“, sagte Laura. „Du kamst mit deiner neuen Frau zu Besuch ins Camp Kioga und ein paar Jahre später dann mit deiner Tochter.“
„Aber du hast es gewusst, Laura.“ Er leerte sein Weinglas. „Mein Gott, du hast es gewusst.“
„Es gab Themen, über die wir nie gesprochen haben. Niemals. Du warst eines davon.“
„Warum hast du nichts gesagt?“
„Es war nicht an mir, etwas zu sagen.“
„Du warst die Einzige, die für Jenny hätte sprechen können, und du hast geschwiegen.“
„Ich habe das Kind beschützt“, gab sie angespannt zurück.
„Was zum Teufel soll das denn heißen?“
„Denk mal darüber nach, Philip. Sie war ein glückliches kleines Mädchen, das in einer Welt voller Liebe und Sicherheit aufgewachsen ist. Ich konnte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn irgendein fremder Mann auf einmal in ihr Leben treten und sich als ihren Daddy bezeichnen würde. Nach allem, was ich wusste, hattest du genügend Bellamy-Vermögen und Macht, um sie uns wegzunehmen.“
„Uns?“
„Ihren Großeltern“, korrigierte Laura. Dann wurde sie heftiger. „Und ja – mir auch. Ich habe Jenny geliebt, aber ich hatte kein Anrecht auf sie. Ich hatte Angst, sie zu verlieren.“
„Haben wir auf dich wie solche Monster gewirkt?“
„Ihr wirktet wie eine normale Familie. Und ich konnte mir Jenny einfach nicht mit euch vorstellen. Warum sollte deine Frau sie akzeptieren? Das Kind einer anderen? Und deine Tochter Olivia – ich hatte keine Ahnung, ob es gut für sie gewesen wäre, eine Schwester zu bekommen oder nicht. Egal, wie man es auch dreht und wendet, ich hätte Gott in dem Leben eines kleinen Mädchens gespielt, und das wollte ich nicht.“
Das kleine Mädchen gibt es nicht mehr, dachte Jenny, als eine Entscheidung in ihr heranreifte. Sie war jetzt eine erwachsene Frau, und sie hatte genug davon, sich von Geheimnissen und Ängsten beeinflussen zu lassen.
Nach dem Essen fuhr Jenny mit dem Auto nach Hause. Sie bog automatisch erst einmal in die Maple Street ab, bevor ihr einfiel, dass es ihr Haus dort nicht länger gab. So musste sie also in das große Bett von Rourke zurückkehren, das viel zu gemütlich war, um gut für sie zu sein. Aber jetzt, wo sie so nah war, spürte sie einen inneren Zwang, trotz der späten Stunde am Grundstück vorbeizufahren.
Die Reifen knirschten auf der salzbestreuten Straße. Sie ließ den Wagen am Wegesrand stehen, anstatt auf die von hohen Schneewehen bedeckte Einfahrt zu fahren. Der leere Platz, wo ihr Haus gestanden hatte, wirkte völlig unpassend. Im Vorgarten stand ein Paar hoher Ahornbäume. Als Jenny noch klein gewesen war, hatte ihr Großvater das heruntergefallene Laub im Herbst immer zu einem so hohen Haufen zusammengerecht, dass sie hineinspringen und komplett darin verschwinden konnte. Jetzt wirkten die Bäume fehl am Platz, nackte Skelette, die mitten im Nichts standen. Sie konnte direkt bis in den hinteren Garten sehen. Ein Abbruchunternehmen hatte das beiseitegeräumt, was die Bergungscrew zurückgelassen hatte. Zurückgeblieben war nur ein schwarzes, verkohltes Rechteck Erde, das an ein Kriegsgebiet erinnerte.
Aber es hatte in der vorherigen Nacht und fast den ganzen Tag über geschneit, und dicke Schneewehen hatten alle Anzeichen dafür ausradiert, dass hier die letzten fünfundsiebzig Jahre ein Haus gestanden hatte. Nur das Absperrband, das leise flatterte, markierte die Stelle, die Jennys ganzes Leben lang ihr Zuhause gewesen war. Spuren eines Hasen teilten das ansonsten unberührte Weiß an der Stelle, an der sich einst das Wohnzimmer befunden hatte, in dem ihre Großmutter abends gesessen und sich mit
Weitere Kostenlose Bücher