Das Geheimnis meiner Mutter
Jenny unterhalten hatte.
Vor ihrem Schlaganfall war Granny eine hervorragende Gesprächspartnerin gewesen. Sie liebte es, Dinge ausgiebig zu diskutieren und alle möglichen Fragen zu beantworten. Das machte sie zu einem guten Team, denn Jenny hatten immer tausend Fragen auf der Zunge gebrannt.
„Wie war es für dich als junges Mädchen in Polen?“, war zum Beispiel eine der Fragen, die ihre Großmutter besonders zu beantworten liebte. Dann wurden ihre Augen ganz weich, und ihr Blick ging in die Ferne zu einem Ort, den nur sie sehen konnte. Sie erzählte Jenny von der alten Zeit in dem kleinen Dorf Brzeżny, das inmitten von Weizenfeldern und Ahornwäldern lag und wo die Luft stets erfüllt war vom Gesang der Vögel, dem Rauschen des schnell fließenden Flusses und dem Läuten der Glocken.
Als sie sechzehn Jahre alt gewesen war, hatte Helenkas Vater ihr die Verantwortung übertragen, den mit Weizen oder anderem Getreide gefüllten Wagen zum Müller zu fahren, um es mahlen zu lassen. Dort lernte sie den Sohn des Müllers kennen, einen Ochsen von einem Mann, der stark genug war, um die Mühle einhändig zu bedienen. Seine Augen hatten die Farbe von Rotkehlcheneiern, und sein Lachen war so laut und fröhlich, dass die Menschen, die es hörten, in ihrer Arbeit innehielten und lächelten.
Natürlich verliebte sie sich in ihn. Was hätte sie sonst tun sollen? Er war der stärkste, freundlichste Mann im Dorf und sagte ihr, sie scheine heller als die Sonne.
Für Jenny klang die Geschichte immer nach einem idyllischen Märchen. Aber sie wusste, dass es anders als im Märchen für die Frischverheirateten und kein „Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“ gegeben hatte. Nur zwei Wochen nach der Hochzeit starteten die Deutschen ihre September-Offensive und fielen in Polen ein. Soldaten überfielen das Dorf, zündeten Häuser und Läden an, ermordeten jeden Mann, der nicht tauglich war, und zogen die anderen zu ihrer Armee ein, terrorisierten Frauen und Kinder. Als Jenny alt genug war, um Recherchen zu dem Massaker von Brzezny anzustellen, erfuhr sie, dass ihre Großmutter ihr die Fakten über die schlimmsten Gräueltaten erspart hatte.
Der einzige Grund, warum Helenka und Leopold dem Grauen hatten entkommen können, war, dass sie an dem Tag in die Hauptstadt des Bezirks geschickt worden waren, um ihre Eheschließung eintragen zu lassen. Als sie zurückkamen, herrschte in ihrem Dorf das reinste Chaos, und ihre Familien waren weg – entweder weil sie tot waren, oder weil sie hatten fliehen können.
„Am nächsten Tag“, hatte Granny immer zu Jenny gesagt, „sind wir losgegangen.“ Sie brauchten mehrere Erzählabende und viele Fragen, bevor Jenny erfuhr, dass sie das Dorf zu Fuß verlassen hatten, nur mit den Kleidern, die sie anhatten, einem Sack voller verschrumpelter Äpfel und ein paar Lebensmitteln, darunter die Holzkiste mit dem Vorteig fürs Roggenbrot, die Grannys Mutter ihr am Hochzeitstag überreicht hatte.
Die Deutschen griffen Polen im Westen und die Russen im Osten an. Für die Bevölkerung des Landes wurden jeder Fluss und jeder Weg zum Schlachtfeld, und nicht ein halber Quadratmeter war mehr sicher für die Menschen, die dort lebten, die Erde beackerten, ihre Kinder großzogen und ihre Toten begruben. Ungefähr sechs Millionen Polen starben im Zweiten Weltkrieg. Jennys Großeltern hatten das Glück gehabt, mit dem Leben davonzukommen.
„Wohin seid ihr gegangen?“, hatte sie Granny gefragt.
„Zur Ostsee.“
Als Jenny klein gewesen war, hatte sie gedacht, das wäre, wie zum Laden an der Ecke zu gehen, um einen Liter Milch zu kaufen. Später erfuhr sie, dass ihre Großeltern, die damals beinahe noch selber Kinder gewesen waren und die dörfliche Umgebung ihrer Heimat noch nie verlassen hatten, Hunderte Kilometer zu Fuß gegangen waren. Nachdem sie den Hafen von Danzig erreicht hatten, bezahlten sie die Überfahrt mit dem Schiff mit schwerer körperlicher Arbeit.
Manchmal dachte Jenny an die Menschen, die Granny nie wiedergesehen hatte – ihre Eltern, sieben Geschwister, jeden, den sie kannte. „Sie müssen dir so sehr fehlen“, hatte sie immer gesagt.
„Das stimmt“, hatte Granny erwidert. „Aber sie sind hier.“ Dabei drückte sie ihre Hand sanft auf ihre Brust. „Sie sind für immer in meinem Herzen.“
Gegen das Auto gelehnt, das mit laufendem Motor am Straßenrand stand, schloss Jenny die Augen und drückte ihre Fäuste gegen ihre Brust. Sie betete, dass Granny recht hatte,
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