Das Geheimnis meiner Mutter
herauszuplatzen. Sehr skeptisch schaute Rourke sich die kleinen Fotos an. Die Leute brachten viele Sachen zur Polizei, die dort nichts zu suchen hatten, weil sie etwas aus Versehen oder aus Ignoranz für etwas hielten, das es nicht war. Ein Stück Geweih im Wald wurde für einen menschlichen Knochen gehalten. Ein Fetzen Tierfell in der Rinde eines Baumes war das Haar eines vermissten Kindes. Vergrabene Schätze stellten sich als Katzengold heraus. In neunundneunzig Prozent der Fälle hatten die Funde eine vollkommen logische – und überhaupt nicht kriminalistische – Erklärung.
Doch dieser hier nicht. Dieses Mal konnte es keinen Zweifel daran geben, was er da vor sich sah.
„Habt ihr die Bilder heute gemacht?“, fragte er.
Die Kinder nickten gleichzeitig.
„Habt ihr irgendetwas angefasst?“
Sonnet schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht.“
„Ich brauche die Speicherkarte aus der Kamera“, sagte er. „Geht das in Ordnung, Daisy?“
„Sicher.“ Mit großen, furchtgeweiteten Augen zog sie die Karte aus dem Fotoapparat.
„Ihr habt das Richtige gemacht, Leute“, sagte Rourke und drückte auf der Gegensprechanlage den Knopf für seinen Assistenten.
28. KAPITEL
J enny versuchte, eine Szene nachzuerschaffen, an die sie sich kaum noch erinnerte. Wie sie Rourke am Telefon schon gesagt hatte, war es ein idealer Tag, um an ihrem Projekt zu arbeiten. Sie war in einer lichtdurchfluteten Welt mit wunderschönem Neuschnee aufgewacht und hatte pflichtgetreu alle angerufen, denen sie versprochen hatte, sich jeden Tag zu melden: Nina, Laura, Olivia. Auch mit Rourke, der ihr zuvorgekommen war, hatte sie gesprochen.
Dann hatte sie sich alles für einen perfekten Arbeitstag zurechtgemacht. In dem dicken Bollerofen hatte sie ein Feuer gemacht und den Teekessel aufgesetzt. Sie hatte die Vorhänge beiseitegezogen, um den Blick auf den winterlichen See zu genießen, der nun eine riesige weiße Fläche war, nur unterbrochen von der kleinen Insel mittendrin. Sie machte sich eine Kanne Wintertee und zog sich eine Jeans und einen wolkenweichen Kaschmirpullover an. Sie zog ihr gepolstertes Sofa vor den Ofen, fuhr ihren Laptop hoch und …
Nichts.
Es war grauenvoll. Hier war sie in der idealen Situation, ganz alleine mit ihren Gedanken und Erinnerungen, und sie schien dennoch nicht schreiben zu können. Die Worte wollten einfach nicht kommen, und wenn sie sie zwang, klangen sie banal, wie der Text auf einer Grußkarte oder in einer Radiowerbung.
Was war nur mit ihr los?
Sie fühlte sich nicht einmal mehr wie dieselbe Person, die ihre Zeitungskolumne nur wenige Stunden vor der Deadline aus dem Ärmel geschüttelt hatte; der die Worte nur so aus den Fingern geflossen waren, während sie eine Szene mit der Klarheit einer Fotoaufnahme aufs Papier brachte, gefolgt von einem Rezept, um ihren Punkt zu unterstreichen. Oft hatte sie die Kolumne in allerletzter Sekunde verschickt, aber immer mit einem Gefühl des Selbstvertrauens und der Befriedigung.
Und nun hatte sie alle Zeit der Welt und eierte herum. Anfangs hatte sie es damit entschuldigt, dass die ganzen handgeschriebenen Rezepte ihrer Großmutter im Feuer verloren gegangen waren. Wie sollte sie ihr vergangenes Leben aufs Papier bringen, wenn sie keine Gelegenheit mehr hatte, die alten Zettel durchzugehen?
Doch das war nur eine Ausrede, wie sie selber zugeben musste. Vor allem, nachdem der Troubadour über das Feuer berichtet und Nina einen Aufruf gestartet hatte, ihr alle Fotos und Erinnerungen zu schicken, die man von der Familie noch hatte. Zu Jennys Überraschung hatte sie bei ihrer Rückkehr aus New York von Nina eine ganze Kiste voller verschiedenster Sachen bekommen: ein Foto hier, eine Seite aus einem Buch da, ein alter Beleg aus der Bäckerei, einen Satz Jahrbücher aus Jennys Schulzeit und auch einen von Mariskas in den 1970ern. Meistens steckte noch ein kleiner Brief dabei – Ich bedauere Ihren Verlust –, und ein paar Leute hatten auch den einen oder anderen Schein mitgeschickt, den sie gleich an Grannys Kirche weiterspendete. All das von Menschen aus einer Stadt, der Jenny den Rücken hatte kehren wollen, die sie als beengend und provinziell empfunden hatte. Vielleicht hatte Rourke doch recht, und sie war da, wo sie hingehörte.
Trotzdem, Martin Greer hatte ihr eine Aufgabe gestellt, die anders war als alles, was sie je getan hatte. Es reichte nicht, Rezepte und kleine Geschichtchen anzubieten. Sie musste die Arbeit in einer Familienbäckerei auf
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