Das Geheimnis von Mikosma: Geblendet
wenig enttäuscht, dass sie nicht die Erste am Tisch war. Jenny hatte bereits Platz genommen und starrte auf ihren Teller.
»Hast du keinen Hunger?«, fragte Leandra fröhlich.
Ohne den Kopf zu heben, verneinte Jenny die Frage mit einem kurzen Schütteln.
»Es ist schade, dass du heute schon so früh das Haus verlassen hast. Du hast uns gefehlt, während wir alle gemeinsam hierher gelaufen sind«, versuchte Leandra sie aufzuheitern.
Jenny hob den Kopf, zeigte ihr das hämische Grinsen von gestern und nickte.
»Vielleicht kann sie nicht anders lachen«, dachte Leandra und biss genüsslich in ihre dick mit Honig bestrichene Semmel.
Es war klar, dass sich das Gespräch der Kinder um das große Jahrmarkttreiben drehte. Benjamin war so nervös, dass er fast keinen Happen hinunterbrachte im Gegensatz zu Che, der sich gleich mit drei Tellern bewaffnet hatte, auf denen sich Baguette, Speck und Eier stapelten. Nicht einmal Gregor Mikowsky, der mit seiner Bande an ihrem Tisch vorbeistreifte und sie böse musterte, konnte Leandra diesen Tag verderben. Als die Kinder das zweite Hornblasen hörten, sprangen sie auf, stapelten das benutzte Geschirr, das von Elfen mit sonnengelben Kleidern abgetragen wurde, aufeinander und begaben sich in Alphatas Schloss. Aus der Bibliothek drang fröhliches Kinderlachen. Leandra fragte sich, während sie die Schuluniform überstreifte, wer das sein könnte. Neugierig betrat sie das Zimmer und blickte in das lachende Gesicht eines blonden unbekannten Mädchens, das mit flatternden Haaren auf einer Schaukel saß und hin und her wippte.
Die Haken waren an der gläsernen Decke des Zimmers angebracht und die ellenlangen Seile hingen tief in den Raum hinein. Dadurch füllten die Schwingbewegungen die Bibliothek voll aus. Das honiggelbe Kleid des Mädchens flatterte im Flugwind und die blonden, langen Zöpfe wirbelten wild durcheinander, während es durch den großen Raum glitt. Ihr Lachen war so heiter, dass sich Leandra sowie die anderen von dieser sorglosen Unbeschwertheit anstecken ließen. Glücklich schlenderte sie mit Henry und Luca auf ihre Plätze, ohne jedoch das schaukelnde Mädchen aus den Augen zu lassen. Leandra beneidete die Unbekannte, deren Welt scheinbar in rosarote Farbe getaucht war. Auch als Alphata den Raum betrat und auf ihrem Podest Stellung bezog, drang dieses fröhliche Lachen bis in die letzte Ritze des Schlosses. Auf ein Zeichen der Lehrerin hin lachte das Kind noch einmal laut auf, sprang dann mit einem Satz von der Schaukel herunter und landete federleicht auf dem Steinboden. Dann lief das Mädchen auf eine Mauer in der Bibliothek zu, die es wie von Geisterhand verschlang. Ein enttäuschtes Raunen war die Antwort der Schüler auf das Verschwinden des Kindes. Alphata verschaffte sich durch das gewohnte Klopfen Ruhe und ließ ihre Blicke durch die Reihen ihrer Schüler schweifen. Dann begann sie zu lächeln. Leandra zog die Stirn in Falten und sah Henry und Luca verwundert an.
»Was hat das zu bedeuten?«, zischte Luca leise. »Alphata geht doch zum Lachen in den Keller! Warum also sieht sie uns so fröhlich an?«
Henry zuckte ahnungslos mit den Schultern.
»Vielleicht gibt es was zu feiern«, antwortete Leandra und fixierte erneut ihre Lehrerin.
»Seid ihr enttäuscht«, fragte Alphata neugierig, »dass das Mädchen verschwunden ist?«
Kein Mucks war zu hören.
»Nun?«
Die Lehrerin zog ihre beiden Augenbrauen nach oben.
Es war Benjamin, der es wagte, zu antworten: »Das hätte mir auch gefallen. Wann hat man schon einmal die Chance, in der Schule Spaß zu haben und zu schaukeln?«
Ohne darauf gefasst zu sein, plapperte Leandra anschließend: »Wir hätten es alle sicher auch gerne ausprobiert.«
Entsetzt schlug sie ihre Hand vor den Mund. Was hatte sie nun schon wieder getan! Antworten ohne sich vorher zu melden war sehr ungezogen! Jetzt trat auch noch Alphata dicht an ihren Tisch heran und beugte sich zu ihr nach unten. Dabei stützte sie ihre beiden Hände auf der Tischplatte ab und fixierte Leandra mit ihren Augen. Luca und Henry hielten beide die Luft an. Sie wollten nicht in Leandras Haut stecken.
»Na, dann probiert es doch einfach mal aus«, schlug Alphata laut vor und nahm erneut die aufrechte Körperhaltung ein.
Leandra klappte vor Staunen die Kinnlade nach unten. Das war alles? Wo blieben der Tadel und die Strafpredigt wegen dieses ungebetenen Kommentars? Auch ihre beiden Freunde sahen Alphata mit gerunzelter Stirn an. War die Frau verrückt
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