Das Geheimnis von Mikosma: Geblendet
und entkrampfte ihren Mund.
»Kommt, lasst uns zurückgehen«, bat Luca flehend und wollte wieder in die Richtung der Steintreppe schleichen.
Henry packte ihn jedoch am Kragen und zog ihn zurück. Dann deutete er stumm auf die Wendeltreppe und schob ihn vor sich her.
»Geht auf den Außenseiten der Stufen«, wisperte Leandra, »dann knarren sie nicht!«
Wie auf Watte wandelnd huschten die drei Freunde die Treppe hinab. Sie hatten Glück. Erleichtert stellten sie fest, dass sie alleine in dem Korridor der Buchstaben waren.
»Wir müssen den Anfang der Geschichte finden, die mit dem Schloss des Horros zu tun hat«, erklärte Leandra . »Horros lebt im sechsten Schloss. Daher denke ich, dass wir ziemlich weit nach hinten gehen müssen. Wenn wir Glück haben, beginnen die Buchstaben zu schreiben, wenn wir am richtigen Platz stehen«, sagte Henry und sie liefen den langen Gang hinunter.
Leandra stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass die Hände keinerlei Wörter an die Mauern schrieben. An einer Stelle jedoch, die sich am Ende des Korridors befand, schickten sich diese Hände an, eine neue Geschichte zu erzählen. Die Drei postierten sich davor und begannen zu lesen:
»Einst lebten auf Mikosma in sechs prachtvollen weißen Schlössern sechs Familien in trauter Freundschaft und inniger Liebe. Kein Geheimnis trennte sie voneinander und gegenseitige Hilfe und Unterstützung war eine Selbstverständlichkeit. Ihren Leibern entsprangen sechs Kinder, die fröhlich und ausgelassen miteinander zu spielen vermochten. Vier kräftige Burschen und zwei Mädchen, wovon eine sehr klug war, stellten allerlei Unfug an. Die Liebe ihrer Eltern war jedoch so groß, dass sie lächelnd über ihre Streiche hinwegsahen. Es war eine wundervolle, idyllische Welt, in der die Kinder allmählich älter und größer wurden. Eines Tages jedoch veränderte sich der Jüngste von ihnen. Obwohl seine Freunde versuchten, ihn aufzumuntern, vermochten sie ihn nicht aus seiner Traurigkeit zu retten. Dieser Zustand war den Kindern fremd, denn Sorgen, Leid und Traurigkeit hatten sie noch nie zuvor verspürt. So erzählten sie ihren Eltern davon, die sofort Hilfe versprachen. Diese wurden aber schroff abgewiesen. Verwundert über ein solch fremdartiges Verhalten zogen sie sich zurück und beratschlagten sich untereinander. Immer wieder bemühten sie sich um Kontakt mit dieser Familie, doch sie wurden mit Wut und Spott vondannen geschickt. Allmählich begann das sechste Schloss zu verfallen. Hohe Hecken umschlangen die Gemäuer und drangen durch zerbrochene Fensterscheiben in die einst so herrschaftlich eingerichteten Zimmer. Türen und Fenster wurden von innen verriegelt, um den Kontakt mit den anderen zu verhindern. Der Junge wurde immer verschlossener und sonderte sich von seinen Freunden, die ihn so liebevoll mit in ihr Spiel einbinden wollten, ab. Wie konnte er diesen lieblichen Geschöpfen erzählen, welch schwere Last er auf seinen Schultern trug? Die Scham wegen des dunklen Geheimnisses seines einst so schönen Zuhauses war zu groß. Seine geliebten Eltern waren eines Tages verschwunden, ohne ein Zeichen zu hinterlassen. Bis heute ist ihr Verbleiben ein Rätsel. Statt ihrer quartierten sich hässliche, abstoßende und gemeine Monster in dem Schloss ein, die die Gestalt der Eltern annahmen. Sie verboten dem Jungen, mit der Außenwelt Kontakt zu halten. Je verzweifelter der Kleine versuchte, seinen Freunden davon zu erzählen, desto grausamer wurde er von den Ungeheuern behandelt. Sie schrien ihn an, kreischten laut in den großen Räumen herum, in denen sich das Echo durch Mark und Bein bohrte, und zerbrachen wertvolle Vasen, weil sie damit nach ihm warfen. Das war dem Jungen zu viel und er verfluchte diese Ungeheuer mithilfe von Magie. Er zwang diese Monster, zeitlebens in diesem Schloss zu leben, das er zu einem Gefängnis umbauen ließ. Der Junge fertigte eine Karte an, in die er die Gänge und Wege einzeichnete, die zu dem Zimmer führten, in die er die wilden Bestien eingesperrt hatte. Diese verschloss er in einem goldenen Schrank. Ein großes Eisenschloss verhindert seitdem, dass sein Geheimnis gelüftet wird. Er selbst verließ das Schloss durch einen Geheimgang, den er einst in Kindertagen gegraben hatte. Dieser führt in die Mitte eines großen Labyrinths. Damit niemand mehr in das Schloss eindringen konnte, errichtete er meterhohe Mauern und zahlreiche Irrgänge, sodass Außenstehende sein Inneres niemals zu erreichen wagten. Für alle
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