Das Geheimnis von Vennhues
besucht er nur seinen Vater und ist in ein paar Tagen wieder verschwunden. Dennoch erwarten sie, dass ich mich darum kümmere. Weil ich bei der Polizei arbeite.«
»Und was wirst du tun?«
Hambrock blickte wieder auf die Straße. Ein Bus hielt gegenüber dem Haus, und eine alte Frau kletterte auf den Bürgersteig. Sie trat in eine Pfütze und versuchte vergebens, sich schnell genug in Sicherheit zu bringen. Bevor sie sich auch nur zwei Schritte entfernen konnte, war der Bus bereits abgefahren, und das nachfolgende Auto spritzte in hohem Bogen Schmutzwasser auf ihren Mantel.
Hambrock dachte an Peter Bodenstein.
»In der Schule war Bodenstein zwei Jahrgänge über mir«, sagte er. »Wir besuchten die Realschule im Nachbarort. Der Hof seiner Eltern ist nur ein paar hundert Meter von dem Hof meiner Eltern entfernt. Ich kann mich noch sehr gut an Peter erinnern. Ich habe damals nicht an seine Schuld geglaubt. Ich muss zugeben, dass ich ihn als Junge sehr bewundert habe. Er hat sich von niemandem unterkriegen lassen. In der Schule gab es keinen Lehrer, vor dem er Angst hatte. Ich glaube, dass ich auch so sein wollte wie er. In der Zeit, in der wir Kinder waren.«
»Man sieht es dem Mörder nicht an«, sagte Bäumer vorsichtig. »Jeder Mensch trägt diesen Abgrund in sich.«
Hambrock lächelte. »Heute weiß ich das auch. Du fragst, was ich machen werde? Ich werde mit Bodenstein reden. Ich werde mich sehen lassen in Vennhues und versuchen, die Leute zu beruhigen. Mehr habe ich bislang noch nicht geplant.«
»Brauchst du meine Unterstützung?«
Hambrock schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht. Ich wollte deine Einschätzung hören. Das hat mir bereits weitergeholfen.«
Bäumer sog nachdenklich an seiner Pfeife, bevor er sie schließlich wieder in den Aschenbecher legte und erkalten ließ.
»Haben wir damals irgendetwas sichergestellt, das nun für einen DNA-Vergleich taugt?«
»Ich fürchte nein. Die Leiche des Jungen lag ebenfalls im Wasser. Es gab weder fremdes Blut, noch Spermaspuren oder irgendwelche anderen Anhaftungen. Der Tote war praktisch von allem reingewaschen.«
»Das habe ich befürchtet«, sagte Bäumer. »So hatte ich es in Erinnerung.«
»Heutzutage haben wir zwar ganz andere Möglichkeiten …«
»Doch daran konnte damals natürlich niemand denken. Somit bleibt dir nur das Gespräch.«
»Wenn er dazu überhaupt bereit ist. Ich glaube kaum, dass ich heute das schaffe, was euch vor dreiundzwanzig Jahren nicht gelungen ist.«
Bäumers Frau trat ins Wohnzimmer und erkundigte sich, ob sie noch Tee oder Gebäck bringen sollte. Bevor sie wieder ging, zog sie die Stirn in Falten und schnupperte in die Luft. Gerhard Bäumer hatte offenbar Angst, dass seine Frau den Rum riechen könnte, denn er zündete schnell seine Pfeife wieder an und blies den Rauch in ihre Richtung. Sie hüstelte vorwurfsvoll, dann verschwand sie und zog nachdrücklich die Wohnzimmertür hinter sich zu.
»Ich habe schon einige Mörder erst nach vielen Jahren überführt«, sagte Bäumer, als wären sie gar nicht unterbrochen worden. »Manche sind nach all der Zeit froh, endlich ihr Gewissen erleichtern zu können.« Sein Blick schweifte in die Ferne. »Nach so vielen Jahren«, sagte er schließlich, »ist das Gespräch manchmal die beste Waffe, die man haben kann. Du solltest das nicht unterschätzen.«
4
Der Grabstein war im Laufe der Zeit ergraut, die Inschriften vergangener Generationen verblasst. Moos und Flechten zogen sich an windgeschützten Stellen über den Block, und Efeu wucherte im Schatten darunter. Ein einziger Name auf dem Familiengrab war gut zu lesen. Es war der unterste, der zuletzt hinzugefügt worden war. Maria Bodenstein, geb. Niehues, 16.02.1933–05.10.1995. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln .
Peter Bodenstein kniete vor der Familiengruft und zündete ein Grablicht an. Bevor er es jedoch in die Messingfassung sinken ließ, säuberte er mit übertriebener Sorgfalt die Glaszylinder der Lampe. Erst als sie von jedem noch so feinem Staubkorn befreit war, gab er sich widerwillig zufrieden.
Es war so schrecklich wenig, das er tun konnte.
Sein Vater stand hinter ihm und blickte lange auf das Grab.
»Die Astern sind verblüht«, sagte er. »Ich überlege, ob man nicht ein bisschen Heide pflanzen sollte oder Silberblatt.«
»Ja«, sagte Peter und erhob sich. »Vielleicht sollten wir das tun.«
»Aber dann denke ich wieder, es sind ja nur noch ein paar Wochen bis zum Winter. Die Natur
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