Das Geheimnis von Vennhues
Lokal.
Auf der Straße bemerkte er, dass die Sonne die letzten Hochnebelfelder aufgelöst hatte. Über ihm strahlte ein azurblauer Himmel. Zwar war der Winter nicht mehr allzu weit, und die morgendliche Kühle kündete vom bevorstehenden Frost. Doch entwickelte die Sonne im Zenit noch immer eine große Kraft, und mit geschlossenen Augen war der vergangene Sommer wieder gegenwärtig.
Kurzentschlossen setzte sich Peter auf die Bank unter der goldgelb leuchtenden Linde und ließ sich die warmen Strahlen ins Gesicht scheinen.
Auf dem Kirchhof spielten Kinder. Drei Mädchen sprangen Seil, ein weiteres schob ein Spielzeugauto über das Kopfsteinpflaster. Etwas abseits saß ein Junge auf den Stufen und malte lustlos mit einem Stück Kreide auf dem Stein. Er blickte kurz zu Peter auf, dann wandte er sich wieder ab.
Das hatte sich also nicht verändert. Die Kinder mussten sich noch immer die Zeit auf dem Dorfplatz vertreiben, bis ihre Väter und Großväter den Frühschoppen beendet hatten und mit dem Wagen zurück zu den umliegenden Bauernhöfen fuhren.
»Stimmt es, dass du ein Matrose bist?«, fragte eine dünne Stimme.
Ein Mädchen war neben der Bank aufgetaucht. Es war zehn oder elf Jahre alt und sah mit einer Mischung aus Skepsis und Ehrfurcht zu ihm auf. Dabei hielt es einen guten Meter Sicherheitsabstand.
»So in etwa«, sagte Peter und lächelte. Einen Maschineningenieur hatte das Mädchen bei der Frage wohl kaum vor Augen.
»Auf einem richtigen Schiff?«
Peter nickte bedächtig. »Natürlich. So wie es sich für einen Matrosen gehört.«
Die Augen des Mädchens weiteten sich. Seine Skepsis war wie fortgeblasen.
»Hast du schon mal Piraten getroffen?«, fragte es aufgeregt. »Mein Vater sagt, dass es gar keine gibt. Nur in Filmen. Er will nicht, dass ich Angst habe, deshalb sagt er das. Aber ich weiß es besser. Es gibt doch Piraten, oder?«
»Doch, doch. Natürlich gibt es Piraten. Ich habe selbst welche gesehen.«
Dem Mädchen klappte die Kinnlade herunter. Peter unterdrückte ein Lachen. Er konnte sich gut vorstellen, welche Bilder durch den Kopf einer Elfjährigen gingen, wenn sie an Piraten dachte. Wahrscheinlich hatten ihre Seeräuber Holzbeine und Augenklappen und trugen ein kunstvoll geschmiedetes Schwert in der Scheide.
»Ich bin sogar einmal von ihnen überfallen worden«, sagte er wahrheitsgemäß. »Aber das ist schon lange her.«
Erschrocken schlug sich das Mädchen die Hand vor den Mund.
»Haben sie dein Schiff geentert?«, fragte es. »Mit Kanonen und einem Anker?«
Peter lachte und schüttelte den Kopf. Doch sie bemerkte, dass er sich über sie amüsierte, und trat mit feindseligem Blick einen Schritt zurück.
»So ungefähr«, sagte er versöhnlich. »Sie sind mit Schnellboten gekommen und dann mit Strickleitern an Bord geklettert. Sie haben unser Geld geklaut und ein paar Motorenersatzteile, die wir geladen hatten, doch es ist niemandem etwas passiert.«
»Habt ihr denn gekämpft?«
»Nein, das dürfen wir gar nicht. Das wäre viel zu gefährlich. Wir müssen einfach aufpassen, dass so etwas nicht wieder passiert. Wenn Piraten in der Nähe sind, verstärken wir die Wachen und bringen zusätzliche Scheinwerfer an. Wir fahren dann ganz schnell, und wenn sie doch kommen, dann spritzen wir sie mit unseren Feuerlöschpumpen nass und verjagen sie.«
Das Mädchen hörte gebannt auf jedes einzelne Wort.
»Aber unser Schiff ist riesengroß. Über zweihundert Meter lang. Die Piraten suchen sich lieber kleinere Frachter und Yachten, um Beute zu machen. Es ist also für die großen Frachter gar nicht so gefährlich, wie man denkt.«
Sie dachte darüber nach. »Können auch Mädchen Piraten werden?«
Peter blickte sie ironisch an. »Willst du das denn?«
»Oh ja! Am liebsten wäre ich …«
»He, Klara! Lass den Mann in Ruhe!«
Ein junger Mann mit flachsblondem Haar war hinter ihnen aufgetaucht. Die Hände tief in den Hosentaschen stand er da und sah das Mädchen warnend an.
»Aber ich wollte doch nur …«
»Keine Widerrede! Geh schon mal rüber ins Haus. Es gibt gleich Mittagessen.«
Das Mädchen blickte enttäuscht zu Boden. Kaum hörbar murmelte sie Peter einen Abschiedsgruß zu, dann schlurfte sie mit hängenden Schultern davon.
»Tut mir Leid«, sagte der junge Mann und schob sich umständlich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Ich muss mich für meine kleine Schwester entschuldigen.«
»Aber nein. Sie hat nicht gestört. Im Gegenteil, ich fand sie
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