Das Geheimnis von Vennhues
Mord in die Schuhe zu schieben. Schließlich war er schon einmal eines Mordes verdächtigt worden.
Draußen vor der Kneipe knackte ein Ast. Jemand musste unterm Fenster stehen.
Hambrock beugte sich eilig über den Tisch und blickte hinaus. Doch auf der Straße sah er nur Gertrud Große Dahlhaus. Sie war offenbar auf dem Weg zur Kirche. Mit langsamen Bewegungen schlich sie davon.
Hambrock blickte ihr mitleidig hinterher. Sie wirkte ziemlich verwirrt, kein Wunder nach dem, was geschehen war. Es musste ein schrecklicher Schlag für sie sein. Er nahm sich vage vor, sie später zu besuchen. Es würde nicht leicht werden, doch vielleicht gelang es ihm ja, ein paar Worte des Trostes zu sagen.
Er schloss sorgfältig das Fenster und setzte sich wieder zu Jennifer. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob Gertrud etwas gehört haben könnte. Doch da hätte sie schon unterm Fenster lauschen müssen. Eine abwegige Vorstellung. Er verwarf den Gedanken und wandte sich wieder Jennifer zu.
Auf dem Mittelweg des Vennhueser Friedhofs stand ein hohes Sandsteinkreuz. Darunter war ein provisorischer Altar für die Andacht aufgebaut und liebevoll geschmückt worden. Lange vor Beginn hatten sich bereits zahlreiche Menschen auf dem Kirchhof versammelt und standen dicht gedrängt vor dem Eisentor.
Hambrock blickte sich um. Werner Bodenstein war nicht unter den Anwesenden. Offenbar hatte er beschlossen, der Andacht fernzubleiben. Angesichts der Unruhe in der Menge war dies auch eine gute Entscheidung gewesen. Herrschte am Morgen noch Fassungslosigkeit, so waren inzwischen Wut und Angst die dominanten Gefühle. In den Gesprächen hörte Hambrock immer wieder den Namen Peter Bodenstein fallen. Vorwürfe gegen die Polizei wurden laut, und man fragte sich, weshalb sich Peter überhaupt mehrere Tage unbehelligt in Vennhues hatte aufhalten können. Zum Glück erkannten die wenigsten in der Menge Hambrock, denn schließlich war er verantwortlich für die Arbeit der Polizei.
Dieses Mal war Pastor Bruikhoff vorbereitet. Als er Vennhues erreichte und die Blaskapelle der Freiwilligen Feuerwehr Stellung bezog, gab er den Messdienern ein Zeichen, mit den üblichen Ritualen zu warten. Zuvor richtete er einige Worte an die Gemeinde. Auch wenn er den Leuten nicht so vertraut war wie sein Vorgänger, so hatte er doch eine glaubwürdige Rede vorbereitet und rief zu Mäßigung und Besonnenheit auf. In der Andacht sprach er dann noch Gebete und Fürbitten für den Jungen, und als schließlich alles zu Ende war und die Leute zurück zum Parkplatz und zu ihren Autos strömten, da glaubte Hambrock, dass wieder ein wenig Ruhe eingekehrt war.
Er hatte seinen Leuten angeordnet, während der Friedhofsandacht bei Hermann Esking zu warten und die Befragungen erst im Anschluss fortzuführen. Sie würden noch eine gute Stunde Zeit haben, bevor es zurück nach Münster ging, wo sich die gesamte Gruppe zu einer Besprechung mit der Staatsanwältin treffen würde. Zeit genug, dachte Hambrock, um unauffällig mit Elli nach Holland zu verschwinden.
Auf dem Parkplatz heulten die ersten Automotoren auf, und nach und nach leerte sich auch der Platz vor der Kirche. Hambrock legte seinen Arm um Elli, die ihn zur Andacht begleitet hatte, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu seinem Dienstwagen.
»Was denkst du?«, fragte er mit gesenkter Stimme. »Der Moment wäre günstig. Sollen wir uns aus dem Staub machen und nach Holland fahren?« Er ließ seine Hand nach unten wandern und kniff ihr in den Po. »Keiner kennt uns da«, flüsterte er ihr ins Ohr, »und wir können uns aufführen, wie wir wollen. Vielleicht ziehen wir uns am Ende nackt aus und tanzen irgendwo auf einer Theke.«
Sie blickte ihn mit großen Augen an. »Deine Mutter geht davon aus, dass wir mit der Verwandtschaft zum Kaffeetrinken kommen. Sie hat eine ganze Batterie von Sahnetorten im Vorratsraum, die nur auf uns warten.«
Hambrock ging auf das Spiel ein. Er zuckte zusammen, als wäre er von einer Kugel getroffen worden.
»Nein, tu mir das nicht an«, stöhnte er. »Bloß das nicht. Lass uns von hier verschwinden, Elli. Bitte. Noch haben wir die Chance dazu. Schnell.«
Sie lächelte. »Also gut, ich bin dabei«, sagte sie. »Deine Mutter soll aber erfahren, dass du mich überredet hast. Den Ärger holst du dir ab. Schließlich denkt sie, ich sei unfehlbar.«
»Womit sie völlig Recht hat«, sagte er und küsste sie auf die Wange.
Er warf einen letzten Blick zurück. Ein Meer von Grablichtern
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