Das Geheimnis von Vennhues
Ahnung. Aber sie schien ziemlich verwirrt zu sein. Kein Wunder, bei dem, was sie gerade durchmacht. Ich werde trotzdem besser nachsehen.«
Annette ging voran, nahm einen Schlüssel vom Brett und drückte ihn ihrem Mann in die Hand.
»Nimm am besten den Jeep«, sagte sie und öffnete die Tür. »Und pass auf dich auf.«
Norbert Osterholt küsste sie flüchtig auf die Wange, dann verließ er das Haus. Draußen öffnete er die Tür seines Jeeps, und ein weiteres Mal hörte er das Brüllen einer Kuh. Er blickte zur Weide, doch im Nebel war nichts zu erkennen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dann stieg er ein und zog die Wagentür zu. Sobald die Temperaturen sanken, würden die Kühe aufgestallt werden. Lange konnte das nicht mehr dauern.
Er schaltete das Fernlicht ein. Die Sicht betrug weniger als fünfzig Meter, und er fuhr im Schritttempo über die schmale Landstraße. Wenn der Nebel aus dem Nichts auftauchte und ganz plötzlich alles umschloss, dann passierten stets die meisten Unfälle. Das wusste er aus Erfahrung. Die Leute stellten sich nicht rechtzeitig auf die schlechten Sichtverhältnisse ein.
Bis zur Weide war es nicht weit. Sie gehörte zum Naturschutzgebiet des Vennhueser Moors und wurde extensiv genutzt, was bedeutete, dass Norbert Osterholt sie weder düngen noch dränieren durfte. Es gab keine Elektrozäune und keine Entwässerungsgräben, und Binsengräser und andere Moorpflanzen konnten sich ungehindert ausbreiten.
Osterholt parkte den Jeep vor dem Holzgatter und stellte den Motor ab. Er blickte über die Weide, doch nirgends konnte er eine Gruppe Jugendlicher entdecken. Im hinteren Teil der Wiese allerdings, dort, wo Moor und Landesgrenze an sein Grundstück reichten, lag dichter Nebel. Gut möglich, dass sie dort draußen ihr Unwesen trieben.
Er zog die Handbremse und stieg aus. Sofort stand er mit einem Fuß in einer schlammigen Pfütze. Fluchend zog er seinen Stiefel heraus. Er war froh, sich richtig angezogen zu haben. Die Wiese würde ebenfalls mit Wasser vollgesogen sein.
Er stützte sich auf das Gatter und lauschte in den Nebel hinein. Doch da war nichts zu hören. Vielleicht waren die Jugendlichen ja längst wieder fort.
Doch wo er nun schon einmal da war, sagte er sich, wollte er auch nach dem Rechten sehen. Er kletterte also über das Holzgatter und sprang auf die andere Seite. Dann stapfte er durch das Gras zum Moor.
Er hörte nichts als seinen Atem und das Schmatzen der Stiefel im feuchten Grund. Der Jeep verschwand langsam hinter ihm im Nebel.
Seltsam, wenn alles so ruhig ist, dachte er.
Da war nicht einmal der Schrei eines Vogels oder das Rascheln von Laub. Er hatte zunehmend das Gefühl, sich in einem Traum zu bewegen. Weder Zeit noch Raum schienen zu existieren, und um ihn herum war alles wie erstarrt.
Endlich rückte der hintere Teil der Wiese in sein Blickfeld. Ein alter Grenzstein ragte aus dem Nebel – ein verwitterter Sandsteinblock, in den die Wappen der Fürstbistümer Münster und Gelderland eingearbeitet waren. Er markierte den Grenzverlauf entlang eines Grabens. Längs dazu verlief eine Wallhecke, dahinter lagen die unberührten Teile des Vennhueser Moors.
Auch hier war alles verlassen. Nirgends war jemand zu sehen.
Osterholt sah sich um. Es lagen keine Scherben im Gras, und auch der Zaun war unversehrt.
Falscher Alarm!, dachte er und vergrub die Hände in den Taschen seiner Daunenjacke. Was immer Gertrud gesehen hatte, auf seiner Wiese war alles in Ordnung. Der Tod ihres Sohnes musste sie völlig aus der Bahn geworfen haben. Gut möglich, dass sie sich am Ende alles nur eingebildet hatte. Er wollte sich abwenden und zurück zu seinem Jeep gehen, doch stattdessen hielt er inne.
Im Moor war ein Licht. Ganz schwach und undeutlich, und dennoch konnte er es sehen. Es schien zu flackern und sich zu bewegen, und im nächsten Moment war es wieder verschwunden.
Er trat an den Zaun heran und spähte durch die kahlen Zweige der Wallhecke. Doch es war nichts mehr zu sehen.
Nebel lag über der Ebene, und die toten Äste verkrüppelter Moorbirken ragten aus den Bülten heraus.
Das Licht war verschwunden, und Osterholt begann sich zu fragen, ob es denn überhaupt existiert hatte.
Er zögerte. Etwas stimmt hier nicht, dachte er.
Mit einem beherzten Satz sprang er über den Zaun. Dann schob er die Zweige der Wallhecke auseinander und arbeitete sich zur anderen Seite durch. Ein schmaler Bohlenweg führte an der Hecke entlang, dahinter lag das offene Moor.
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