Das Geheimnis zweier Ozeane
unterseeische Gelände stieg steil an.
„Was hat das zu bedeuten, Arsen Dawidowitsch?“ fragte Pawlik den Zoologen, als sie ihren Weg über den Hang des unterseeischen Berges fortsetzten. „Wozu braucht der Krebs eine Seeanemone? Liebt er denn Blumen so sehr?“
Der Zoologe faßte den Jungen unter.
„Das hat nichts damit zu tun, Pawlik. Was du gesehen hast, ist ein Beispiel der Symbiose. Die Symbiose ist ein enges, dauerndes Zusammenleben zweier Lebewesen verschiedener Arten zu gegenseitigem Nutzen wie etwa zur Verteidigung und zur Erlangung von Beute. Es ist also eine Lebensgemeinschaft im Kampf ums Dasein. Einer hilft dem anderen durch seine Fähigkeiten, die nur er allein besitzt.“
„Wieso hilft der Krebs der Seeanemone? Sie kann sich doch selbst ihre Nahrung erbeuten.“
„Das stimmt schon. Aber die Seeanemone kann sich fast gar nicht selbständig fortbewegen. Und um genügende Nahrung zu erlangen, muß man sich bewegen und seine Nahrung suchen. Es ist unvorteilhaft, immer am gleichen Ort zu sein und zu warten, bis die Beute von selbst erscheint. Auf dem Rücken des Krebses jedoch, der ständig hin und her kriecht, fällt der Seeanemone reichliche Nahrung zu.“
„Sie reitet also auf dem Krebs! Schlau hat sie das angestellt.“
„Gar nicht so schlau, wie es dir scheint, Kleiner. Du hast es doch gesehen: Nicht sie klammerte sich an den Krebs, sondern er hat sie fast mit Gewalt auf sein neues Häuschen verpflanzt. Der Handelnde war in diesem Falle der Krebs. Er sucht sich eine Seeanemone, manchmal auch zwei. Dabei kämpft er oft mit anderen Krebsen, um sich eine Freundin zu verschaffen.“
„Welchen Nutzen hat denn nun der Krebs von ihr?“
„Erstens verbirgt sie ihn vor seinen nicht wenigen Feinden. Hat er auf seiner Muschel zwei oder sogar drei Mitbewohner angesiedelt, so sieht man ihn kaum; er ist dann fast in Sicherheit. Außerdem, wenn irgendein kleiner Fisch, der Krebsen nachstellt, ihn auch unter der Seeanemone bemerkte und ihn erbeuten möchte, so würde das dem Fisch schlecht bekommen. Er würde sofort mit den Nesselfäden der Seeanemone recht unliebsam Bekanntschaft machen. Diese Fäden, die aus dem Körper und aus den Fühlern der Seeanemone hervorschnellen, können ein kleines Tier lähmen und sogar einem großen Lebewesen erheblich zusetzen. Zweitens ist die Beute einer Aktinie, die auf einem Krebs reitet, meistens so reichhaltig, daß auch für den Krebs ein paar Brocken vom Tisch seiner Freundin abfallen. Und wenn der Krebs selbst irgendeine Beute findet, sei es ein toter Fisch oder der Kadaver eines anderen Tieres, dann bewirtet er oft auch seine schöne Reiterin.“
„Das ist ja fabelhaft, Arsen Dawidowitsch! Richtige Kameraden! Unter all den Tieren ist immer nur Krieg und Kampf, nur der Krebs hält mit der Seeanemone Freundschaft.“
„So ist es nun auch wieder nicht, Pawlik. Die Symbiose ist keine allzu seltene Erscheinung im Tier- und Pflanzenreich. Ich könnte dir eine Menge Beispiele anführen, darunter ganz wunderbare …“
Plötzlich blieb der Zoologe stehen, ließ Pawliks Hand los und hob etwas vom Meeresgrund auf. Pawlik sah, wie der Gelehrte eine große, schwarze, seltsam gewundene Muschel betrachtete, zwischen deren Schalenklappen er einen metallenen Finger geklemmt hatte.
„Wie schwer sie ist …“, murmelte der Zoologe. „Fast wie ein Stück Eisen … Seltsam … recht seltsam …“
„Was ist das, Arsen Dawidowitsch?“
„Pawlik!“ rief der Zoologe plötzlich aus. Er hatte die Muschelklappen mit Mühe geöffnet und betrachtete aufmerksam den zwischen ihnen eingeschlossenen gallertartigen Körper. „Pawlik, das ist eine neue Art aus der Klasse der Blätterkiemer, der Wissenschaft bisher völlig unbekannt. Nein, Pawlik!“ Der Gelehrte war außer sich vor Begeisterung. „Was sage ich! Keine neue Art, nein! Pawlik, mein Teurer! Das ist eine neue Klasse! Jawohl, eine neue Klasse! Dieser Blätterkiemer besitzt einen Kopf! Begreifst du das? Das ist schon keine Lamellibranchiata mehr. Jetzt gibt es ein ganz neues Tier: Lamellibranchiata cephala Lordkipanidse!“
Der Zoologe hatte hier, auf dem Grund des Sargassomeeres, schon manche Entdeckung gemacht, die auch einen weniger begeisterten Wissenschaftler aus dem Häuschen gebracht hätte. Aber bis jetzt konnte er sich noch nicht an die Überraschungen gewöhnen, die der Ozean in so reicher Fülle bot. Als er der neuen Klasse der Weichtiere seinen Namen gegeben hatte, betrachtete er voller Staunen den
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