Das Gelübde einer Sterbenden
diesen Regionen ließ er seiner poetischen Phantasie freien Lauf und machte sich seine Sorgen um seine linkische Haltung. Wie oft begegnet man großen Dichtern unter den schüchternen Gelehrten, die sich noch im Alter einen kindlichen Sinn bewahrt haben!
Von seinen Schulkameraden verhöhnt, unausgesetzt geistig angespannt, verbarg Daniel seine ganze Liebesfähigkeit in den geheimsten Falten seines Herzens. Er hatte auf dem weiten Erdenrund nur ein Wesen, das er lieben konnte, die unbekannte Mutter, unter deren Obhut er stand, und diese liebte er mit der ganzen Gefühlsinnigkeit, die jeder ausschließlichen Liebe eigen ist. Der dichtende Mathematiker war bei ihm mit einem leidenschaftlichen Liebhaber gepaart, dessen Herz dem Gegenstand seiner Wahl um so stärker entgegenschlägt, je weniger man es sonst überall zu würdigen weiß.
Daniel war also in der Anbetung der guten Fee aufgewachsen, die ihm die Sorge um das materielle Dasein abgenommen hatte. Das Dunkel, in das sie sich vor ihm hüllte, erhöhte nur in seinen Augen ihre Heiligkeit. Er hatte sie zwei oder drei Mal von Angesicht zu Angesicht gesehen und betrachtete sie als ein wunderbares Wesen, das mit der übrigen Menschheit nicht verglichen werden durfte. Eines Tages, als er schon von dem Gymnasium abgegangen war, sagte man ihm, Frau von Rionne wünsche ihn zu sprechen, und ersuche ihn, sich zu ihr nach Paris zu begeben. Diese Nachricht machte ihn so glücklich, daß er beinah den Verstand verloren hätte. War es ihm doch nun verstattet, sich an ihrem Anblick zu weiden, ihr zu danken, ihr seine Liebe zu bezeigen! Wurde doch der schönste Traum seines Lebens zur Wirklichkeit: Die gute Fee, die Heilige, seine Vorsehung nahm ihn in den Himmel auf, in dem sie wohnte. Er reiste also in höchster Eile ab.
Aber ach, in Paris angekommen, fand er Frau von Rionne auf ihrem Sterbebette. Acht Tage lang kam er jeden Abend aus seinem Zimmer herunter, betrachtete sie von ferne und weinte. So wartete er den schrecklichen Ausgang ab, sinnlos vor Herzeleid und unfähig zu begreifen, daß Heilige sterblich sein können.
Dann ward es ihm endlich vergönnt, seine Dankbarkeit zu beweisen, hinzuknieen und der Sterbenden feierlich zu versprechen, daß ihr letzter Wunsch erfüllt werden sollte.
Die folgende Nacht brachte er in Gesellschaft des Geistlichen und einer Krankenwärterin bei der Leiche zu. Von Rionne hatte sich, nachdem er eine Stunde lang auf den Knieen geblieben war, diskret entfernt.
Während der Geistliche betete und die Wärterin in einem Lehnstuhl schlummerte, überließ sich Daniel trocknen Auges, denn weinen konnte er nicht mehr, seinen trüben Gedanken. Ihm war zu Mute, als trüge er ein Gewicht im Kopfe, doch war das Gefühl ein sanftes, nicht unangenehmes, dem Uebergang zum Schlafe vergleichbares. Er sah die Gegenstände nicht deutlich und bisweilen hörte das Denken bei ihm ganz auf. Beinah zehn Stunden lang beschäftigte so ein und derselbe Gedanke sein müdes Hirn, — daß Blanca gestorben sei und die kleine Jeanne jetzt die Heilige wäre, die er lieben, für die er sich aufopfern müßte. Aber ohne daß er sich dessen klar wurde, nahm er in dieser langen Nacht an Mut zu und erstarkte zum Manne. Der schreckliche Vorgang, dem er beigewohnt, der Kummer, der ihn aufgerüttelt hatte, machten kraft der Erziehung, die das Leid dem Menschen giebt, seinem furchtsamen Kindersinn ein Ende. Diese Wirkung des Kummers fühlte er auch bei all seiner Mattigkeit und überließ sich willig der Kraft, die innerhalb weniger Stunden sein Herz und seinen Verstand reifte.
Am Morgen, als er wieder sein Zimmer betrat, war ihm zu Mute wie einem Betrunkenen, der seine Wohnung nicht wieder erkennt.
Dieses schmale und lange Zimmer lag im Dachgeschoß und gewährte eine Aussicht auf die Baumwipfel der Esplanade, die wie ein grünes Meer im Winde wogten; weiter nach links zu sah man die Höhen von Passy. Das Fenster war offen geblieben und helles Licht strömte in das Zimmer herein. Es herrschte eine gewisse Kühle darin.
Daniel setzte sich auf sein Bett. Er war müde zum Umfallen und doch fiel es ihm nicht ein, zu Bett zu gehen. So blieb er lange sitzen, starrte die Möbel an, fragte sich hin und wieder, was er hier mache, und besann sich dann auf das Geschehene. Ab und zu horchte er auf und wunderte sich, daß er nicht weinte.
Endlich erhob er sich und trat ans Fenster. Die Luft that ihm gut. Kein Geräusch aus dem Hause drang zu ihm empor. Unten in dem Gärtchen gingen
Weitere Kostenlose Bücher