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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die
    Verletzungen mit
    festgezurrten Bandagen, um zu sehen, ob sie dennoch bluten würden. Da schon die leichteste Berührung Anna unerträgliches Leid bereitete, wurden die Druckverbände für sie zur unerträglichen Tortur. Niemand kam ihr zu Hilfe, nicht einmal Pater Limberg, ehe nicht alle überzeugt waren, daß die Male trotz allem nicht verheilten. Erst nach sieben Tagen und Nächten nahm man die grausamen Pressen wieder ab.
    Schließlich geriet Annas Nahrungsaufnahme ins Blickfeld der Zweifler. Man flößte ihr allerlei Speisen und Getränke ein, nur um den Beweis zu erbringen, daß sie nichts davon bei sich zu behalten vermochte. Daraufhin wurde beschlossen, sie fortan nur noch mit klarem Brunnenwasser und der geheiligte Hostie zu ernähren.
    Beinahe drei Monate vergingen, ehe der Generalvikar und seine Schergen sich zufriedengaben. Das Komitee zog sich zurück, und bald darauf wurden Annas Leiden von der Kirche offiziell anerkannt. Der einzige, der Gewinn daraus zog, war freilich Pater Limberg, denn er konnte sich von nun an mit der heiligen Aura seiner Schutzbefohlenen brüsten.
    Nachdem der Dechant geendet hatte, schwor ich mir, nicht zuzulassen, daß es noch einmal soweit kommen würde. Wir vereinbarten, Annas Vorhaben gleich am nächsten Tag in die Tat umzusetzen. Ich hatte weder mit dem Abbé noch mit Limberg oder Wesener darüber gesprochen. Anna hatte bis zuletzt darauf bestanden, dies selbst zu übernehmen, und so hatte sie mich gebeten, sie an diesem Tag nicht mehr zu besuchen. Wie auch immer sie auf die drei Männer einzuwirken gedachte – selbst ihr war klar, daß es den ganzen Tag und all ihre Kraft in Anspruch nehmen würde.

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    19
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    Die Kunde von Annas Martergang sprach sich bis zum Morgen in ganz Dülmen herum. Bei Sonnenaufgang wurde vom Bäckerhaus zur Kirche ein Weg durch das Laub geschaufelt.
    Selbst der Wind hatte ein Einsehen und brachte an diesem Tag keine neue Blätterflut.
    Als ich früh in Annas Kammer trat, sah ich gleich, daß es ihr nicht gutging. Keiner ihrer drei Beschützer war bei ihr, nicht einmal der Abbé hatte sich bislang sehen lassen.
    Von der mürrischen Gertrud erfuhr ich, daß Anna in der Nacht lange wachgelegen hatte. Sie hatte behauptet, von allen Seiten dringe das Schreien von Hähnen an ihre Ohren. Meine Sorge um sie wuchs. Vergebens kämpfte ich gegen meine Überzeugung an, daß es ein furchtbarer Fehler gewesen war, mich auf dieses wahnwitzige Vorhaben einzulassen.
    »Sie sehen krank aus«, sagte sie besorgt, als ich mich auf dem Schemel neben ihrem Bett niederließ.
    »Ich habe auch allen Grund dazu«, sagte ich finster. »Ich glaube noch immer, daß das, was Sie vorhaben, falsch ist.«
    »Was wir vorhaben«, verbesserte sie mich.
    »Sie sollten noch einmal darüber nachdenken.«
    »Was würden all die Leute sagen, die an den Straßenrändern stehen und warten?«
    »Hat Gertrud Ihnen von denen erzählt?«
    »Jede Einzelheit. Auf dem Markt haben sie Bierfässer angeschlagen. Zum ersten Mal seit Wochen kommen sie alle wieder gemeinsam aus ihren Häusern.«
    »Das ist widerlich. Diese Leute machen ein Volksfest daraus.«
    »Aber es ist doch schön, wenn die Menschen sich freuen.«
    Ich starrte sie entgeistert an. »Diese Menschen tun das wegen Ihnen, Anna. Sie wollen ein Spektakel erleben, keinen Bußgang. Die meisten von denen warten nur darauf, daß Sie dort unten zusammenbrechen, am besten mit Blitz und Donner am Himmel – aber ohne Regen, der könnte ja das Bier verdünnen.«
    »Sie sehen überall nur Niedertracht. Ich frage mich, warum.«
    »Weil ich die Menschen kenne«, erwiderte ich scharf. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich lange genug unter ihnen gelebt.«
    »Pater Limberg wird schon achtgeben, daß mir niemand ein Bein stellt.«
    »Ich verstehe nicht, wie Sie das alles so leichtnehmen können!« Ich sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. »Sie sollten sich sehen, Anna. Sie haben nicht geschlafen. Sie haben Schmerzen. Sie sind müde und völlig erschöpft.«
    »Und dennoch bin ich glücklich«, sagte sie, und die aufgesetzte Milde in ihrer Stimme wurde von Trotz durchzogen. »Ich weiß, Sie können das nicht begreifen.«
    Ich blieb stehen und sah sie eindringlich an. »Sie lassen sich nicht mehr umstimmen, nicht wahr? Sie werden Ihren verrückten Plan in die Tat umsetzen, koste es, was es wolle.«
    »Gott wird mir beistehen. Er weiß, daß es allein zu seinen Ehren geschieht.«
    »Hören Sie doch auf! Sie tun das nicht für Ihren Gott,

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