Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
nicht von hier aus tun?«
    »Sie verstehen das nicht.«
    »Aber warum die Glocken?« fragte ich in einem Anflug von Verzweiflung. »Es müssen wer-weiß-wieviele Stufen bis dort oben sein. Wie wollen Sie die hinaufkommen?«
    »Das ist es ja, wobei Sie mir helfen sollen.«
    »Ich kann Sie nicht den ganzen Weg tragen. Und selbst wenn ich es könnte, würden die Schmerzen Sie umbringen.«
    Ihr Gesicht blieb ernst, nur ihre Augen funkelten vergnügt.
    »Das werden wir ja sehen.«
    Ich schüttelte energisch den Kopf. »Sie wissen, daß ich Sie gerne bei allem unterstütze, um das Sie mich bitten. Aber ich werde nicht zusehen, wie Sie sich umbringen.«
    »Nun seien Sie doch nicht so pathetisch! Es wird schon gutgehen.« Dann, ganz plötzlich, schienen ihre Züge zu zerfließen. »Verstehen Sie nicht? Ich muß mehr tun, als nur beten, um meinen Frieden mit Gott zu machen.«
    »Sie wollen sich Ihre eigene Prüfung auferlegen«, entfuhr es mir zornig. »Das ist es doch, nicht wahr? Es reicht Ihnen nicht, was er Ihnen antut. Es muß noch grausamer, noch schmerzhafter sein.« Mit einemmal fragte ich mich, ob vielleicht auch unsere Gespräche für sie nicht mehr waren als eine beständige Prüfung, ein Mißachten der eigenen Schamgrenze, um sich selbst wieder und wieder zu bestrafen.
    Der Gedanke versetzte mir einen Stich.
    »Sie zweifeln an mir«, sagte sie unvermittelt, und ich wußte genau, daß sie damit nicht das meinte, was ich gesagt hatte, sondern das, was ich dachte. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn Sie an meinen Gefühlen zweifeln«, sagte sie leise.
    Und was für Gefühle waren das? Hätte ich darauf nur eine Antwort gewußt.
    Ich beugte mich vor und streichelte sanft ihre Wange. »Ich würde niemals schlecht über Sie denken.«
    »Nein«, sagte sie, aber ich bildete mir ein, daß sie es wie eine Frage betonte.
    Nach einigen Sekunden des Schweigens flüsterte sie mit flehendem Blick: »Ich bitte Sie, helfen Sie mir. Es ist so wichtig. Das Wichtigste überhaupt.«
    »Ist es wegen des Drachens?« fragte ich und konnte ihr dabei kaum in die Augen sehen. »Haben Sie immer noch Angst vor ihm?«
    »Er kommt«, entgegnete sie fest. »Ich kann spüren, daß es bald soweit ist. Er ist schon auf dem Weg hierher.« Plötzlich schrie sie: »Begreifen Sie denn nicht? Ich muß diese Glocken läuten!«
    Ich saß nur da und starrte sie an, ohne ein weiteres Wort.
    Irgendwann hob ich meinen Blick und schaute aus dem Fenster, hoch über die Dächer hinweg, hinüber zum Kirchturm. Ich hätte schwören können, daß die Distanz mit jedem Wimpernschlag größer wurde, als rücke ihn eine unsichtbare Macht wie eine Schachfigur zur fernen Seite des Spielfelds.

----

    18
----

    Der Pfarrer der Dülmener Stadtkirche, Dechant Rensing, gab sein Einverständnis erst nach einem langen, ermüdenden Gespräch, in dessen Verlauf ich gezwungen war, Argumente gegen besseres Wissen und meine eigene Überzeugung zu finden. Schließlich stimmte er widerwillig zu, bat sich jedoch die Freiheit aus, einen Bericht über das Geschehen an seinen Oberen zu senden, den Generalvikar der Diözese Münster.
    Von Rensing erfuhr ich auch Einzelheiten der kirchlichen Untersuchung, die fünf Jahre zuvor an Anna vorgenommen worden war. Der Generalvikar selbst, der Freiherr von Droste-Vischering, war im März 1813 nach Dülmen gekommen. Der bischöfliche Stuhl zu Münster war damals schon seit elf Jahren verwaist, und der Vikar galt als höchster kirchlicher Würdenträger der Region. Daß er selbst sich ein Bild der Vorgänge machen wollte, bezeugte den Ernst, mit dem die Kirche Annas Wunden und Erscheinungen behandelte.
    Einer Handvoll Kirchenmänner wurde die Überwachung der Kranken übertragen. Sie untersuchten jeden Fingerbreit ihres Körpers, ungeachtet aller Schmerzen, die ihr diese Behandlung bereitete. Sie führten lange, qualvolle Gespräche mit ihr, um ihre sittliche Reinheit zu überprüfen. Pater Limberg mußte all seine Beobachtungen außerhalb der Beichte zu Protokoll geben, und Dechant Rensing erhielt den Auftrag, sämtliche Personen aus Annas Familie und früherer Umgebung zu befragen, nach Gesichtspunkten, die der Generalvikar persönlich ausgearbeitet hatte.
    Im Laufe dieser Untersuchungen wurde festgestellt, daß das Blut aus Annas Stigmata immer in jene Richtung lief, aus der auch Jesu Wunden am Kreuz geblutet hatten – sogar als man sie mit dem Kopf nach unten legte, rann das Blut noch in Richtung ihrer Füße.
    Weiterhin umwickelte man

Weitere Kostenlose Bücher