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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde
Autoren: Kai Meyer
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resigniert zurück. »Es sollte einen machen, oder? Ärzte haben ein Wort dafür, wenn man Gestalten sieht, die einen verfolgen.«
    »Sie glauben, Sie sind verrückt?« Anna klang amüsiert. »Das ist nicht Ihr Ernst! Wovon reden wir beiden denn seit Tagen?
    Und vor allen Dingen, warum – wenn Sie es doch alles nur als Irrsinn abtun?«
    »Ich kann vielleicht damit umgehen, wenn mir die Jungfrau Maria im Traum erscheint, aber…«
    »Aber wenn sie am Fenster klopft, ist das etwas anderes«, führte sie den Satz zu Ende. »Ist es das, was Sie meinen?«
    »Ich… ach, Herrgott, ich kann es Ihnen nicht erklären. Jeder vernünftige Mensch würde wissen, was ich meine.«
    Sie lachte, ohne eine Spur von Verbitterung. »Sie berufen sich mit der gleichen Inbrunst auf die Vernunft wie Pater Limberg auf den Allmächtigen. Eine bemerkenswerte Parallele.«
    In einer enormen Aufwallung von Kraft und unterdrücktem Schmerz hob sie ihre rechte Hand und legte sie federleicht in meine. Ihre Wunde blutete nicht länger, auch der Verband war getrocknet.
    Ich schüttelte den Kopf, ganz schwach nur. »Ich bin müde.
    Ich sollte jetzt besser gehen.«
    »Sie werden heute nacht träumen, nicht wahr?«
    »Vielleicht.«
    »Ich möchte bei Ihnen sein, wenn Sie träumen.«
    Ihr Antlitz verschwamm vor meinen Augen. Es mußte gegen fünf Uhr am Morgen sein. »Falls ich träume, kann ich Ihnen morgen davon erzählen«, sagte ich matt. Die Augen fielen mir zu. Noch einmal riß ich sie sekundenlang auf, und zugleich kam mir die Gewißheit, daß ich in dieser Nacht nirgendwo mehr hingehen würde. Nicht aus dieser Kammer, nicht aus diesem Haus.
    »Schlafen Sie«, sagte Anna verständnisvoll, »und berichten Sie mir morgen, was Sie erlebt haben. Kommen Sie, beugen Sie sich vor und legen Sie Ihren Kopf neben meinen aufs Kissen… Ja, genau so«, flüsterte sie an meinem Ohr.
    »Beruhigen Sie sich. Schlafen Sie. Ich bin bei Ihnen. Die Mutter Gottes ist bei Ihnen.« Sie hielt kurz inne, dachte nach.
    »Wir werden immer bei Ihnen sein.«#

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    17
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    An einem kühlen Herbstmorgen, vier Tage nach meiner Nacht in der Kleiderkiste, sagte Anna: »Ich habe eine Bitte. Werden Sie sie mir erfüllen?«
    »Natürlich.«
    »Sie wissen ja nicht einmal, um was ich Sie bitten will.«
    »Wenn es unmöglich wäre, würden Sie nicht fragen.«
    »Sie haben großes Vertrauen zu mir.«
    »Das wundert Sie doch nicht wirklich, oder?«
    An jedem der vergangenen Abende hatte sie mir von ihren weiteren Begegnungen mit der Jungfrau erzählt. Daraufhin war sie in den Nächten auch mir erschienen, blaß und schön und zügellos. Jeden Morgen hatte ich Anna alle Einzelheiten meiner Nachtgesichte schildern müssen.
    »Ich möchte, daß Sie mir helfen, diese Kammer zu verlassen«, sagte sie entschlossen.
    »Und wo wollen Sie hin?«
    Ihr Blick wurde traurig. »Sie denken sicher, ich habe den Verstand verloren, nicht wahr?«
    »Warum, um Himmels willen, sollte ich das denken?«
    »Weil ich mich kaum bewegen, geschweige denn laufen kann.«
    Natürlich waren genau das meine Befürchtungen. Trotzdem sagte ich: »Sie würden solch einen Vorschlag nicht machen, wenn Sie vorher nicht darüber nachgedacht hätten, wie er zu bewerkstelligen ist.«
    »Ich wußte gar nicht, daß Sie so diplomatisch sein können.«
    Ich lächelte. »Was also haben Sie vor?«
    »Ich möchte die Glocken des Kirchturms läuten.«
    In diesem Augenblick dachte ich noch nicht an religiösen Eifer oder verbohrte Rituale – nur an eine lange, enge, gewundene Treppe. Und an Anna, die kaum eine Hand heben konnte, ohne vor Schmerzen halb wahnsinnig zu werden.
    »Wie, um alles in der Welt, kommen Sie denn darauf?«
    Sie hielt meinem zweifelnden Blick mühelos stand. »Ich habe das früher im Kloster oft getan. Es tut mir gut.«
    Ich fragte gar nicht erst, wie sie diese letzten Worte meinte.
    »Ich helfe Ihnen gerne, das wissen Sie. Aber Doktor Wesener und der Pater würden solch einer… nun…«
    »Fixen Idee! Sagen Sie’s ruhig.«
    »Sie würden solch einer fixen Idee niemals zustimmen.«
    »Lassen Sie die beiden nur meine Sorge sein.«
    »Und der Abbé?«
    »Er wird Verständnis haben.«
    Anna würde sich nicht umstimmen lassen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und sie wäre nicht sie selbst gewesen, hätte sie sich so leicht davon abbringen lassen.
    »Was glauben Sie denn, was das bewirken soll?« fragte ich.
    »Es wird Ihre Wunden nicht heilen.«
    »Ich will Gott um Vergebung bitten.«
    »Können Sie das
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