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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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rauen Klagegesang im Sanjo -Stil an: Von einem Jungen, der so weit in den Wald lief, dass seine Eltern ihn nicht mehr finden konnten.
    Viele der Mitbürger spitzten die Ohren, weil sie die Melodie einzuordnen versuchten.
    Sun Moon sang: »Ein kalter Wind kam auf und sagte: Komm, Waisenjunge, schlaf in meinen wehenden, weißen Tüchern. «
    An dieser Zeile erkannten die Koreaner das Lied und das Märchen, dem sie entstammten, und doch sangen sie nicht zurück: » Nein, Waisenkind, geh nicht, sonst erfrierst du noch. « Es war ein Lied, das alle Kinder der Hauptstadt lernten – es machte sich über die Waisen lustig, die verwirrt und ziellos durch die Straßen Pjöngjangs huschten. Sun Moon sang weiter, aber die Zuhörer waren offensichtlich gar nicht davon begeistert, dass solch ein fröhliches Kinderlied, in dem es darum ging, die väterliche Liebe des Geliebten Führers zu finden, derart düster vorgetragen wurde.
    Mit rauer Stimme intonierte Sun Moon: »Dann rief ein Bergwerksschacht das Kind: Komm, such Schutz in meiner Tiefe .«
    Im Geiste hörte Ga die Antwort: Meide die Dunkelheit, Waisenkind! Suche das Licht!
    Sun Moon sang weiter den Blues: »Dann flüsterte ein Gespenst: Lass mich herein, Waisenkind! Ich wärme dich von innen. «
    Kämpfe gegen das Fieber, Waisenkind, dachte Ga. Stirb nicht heute Nacht.
    »Sing es richtig!«, verlangte Kommandant Park.
    Aber Sun Moon sang im selben melancholischen Ton weiter von der Ankunft des Großen Bären, seiner Bärensprache, und wie er das Waisenkind auf den Arm nahm und mit seinen Klauen die Waben der Honigbienen öffnete. Aus ihrer klagenden Stimme war all das herauszuhören, was das Lied unerwähnt ließ: Wie scharf diese Klauen waren, wie der Bienenschwarm stach. Ihrem rauen Gesang war die Unersättlichkeit des Bären, sein alles verzehrender, nie befriedigter Appetit nur zu deutlich anzuhören.
    Die zuhörenden Männer riefen nicht: »Habe teil am Honigmahl des Großen Bären!«
    Die Frauen sangen nicht im Chor: »Habe teil an der Süße seiner Taten!«
    Ein Schauder der Ergriffenheit überlief Kommandant Ga, aber er wusste nicht, warum. War es das Lied, die Sängerin, das Hier und Jetzt des Vortrags, oder war es das Waisenkind, um das es ging? Er wusste nur, dass dies Sun Moons Honig war, mit dem sie ihn fütterte.
    Als das Lied zu Ende war, hatte sich die Miene des Geliebten Führers völlig verwandelt. Sein munteres Auftreten, seine begeisterten Gesten waren verschwunden. Sein Blick war stumpf geworden, seine Wangen hingen schlaff herunter.
    Seine Wissenschaftler kamen und berichteten, sie hätten den Strahlungsdetektor inspiziert und für intakt befunden.
    Er bedeutete Park mit einer Handbewegung, dass er das Rudermädchen holen solle.
    »Bringen wir’s hinter uns, Senator«, sagte der GeliebteFührer. »Unser Volk möchte den hungrigen Einwohnern Ihres Landes Nahrungsmittelhilfe leisten. Sobald das abgeschlossen ist, können Sie Ihre amerikanische Staatsbürgerin in Ihre Heimat zurückführen und zu Ihren wichtigeren Geschäften davonfliegen.«
    Als Ga das übersetzt hatte, antwortete der Senator: »Einverstanden.«
    An Ga gewandt sagte der Geliebte Führer nur: »Sag deiner Frau, sie soll jetzt das Rote anziehen.«
    Hätte der Geliebte Führer bloß noch Dr. Song, dachte Ga. Dr. Song, der solche Situationen so gewandt gemeistert hatte, für den solche Szenen nichts als kleine Wogen waren, die sich schnell wieder glätten ließen.
    Wanda kam mit verblüfftem Gesichtsausdruck auf ihn zu.
    »Wow! Wovon zum Teufel hat das Lied gehandelt?«, fragte sie.
    »Von mir«, gab er zurück, aber er war schon mit dem Mädchen und dem Jungen und seiner Frau und dem Hund unterwegs.
    Als sie den Mini-Pohyon-Tempel betraten, schien ein Stoßgebet nicht unangebracht. Genosse Buc hatte nämlich eine Palette mit vier leeren Tonnen darin geparkt. »Keine Fragen!«, wies Sun Moon die Kinder an, während sie die weißen Deckel der Plastikfässer aufriss. Kommandant Ga klappte den Instrumentenkoffer in seiner Hand auf und holte Sun Moons silbernes Kleid heraus. »Bestimme selbst, wie du gehst«, sagte er zu ihr, hob das Mädchen hoch und setzte es in die eine Tonne. Er drehte ihre Handfläche nach oben und legte die Kerne der am Vorabend verspeisten Melone hinein. Als Nächstes kam der Junge, und für ihn hatte Ga die zurechtgeschnitzten Auslösestöckchen, den Faden und den Kiesel der Vogelfalle, die sie zusammen gebastelt hatten.
    Er starrte die beiden an, ihre Köpfe lugten

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