Das geraubte Paradies
Carya.
Ich hoffe, dieser Tag endet nicht in einem grauenvollen Blutbad.
Lärmend und machtvoll wie ein Strom, der über seine Ufer getreten war, wälzte sich die demonstrierende Menge durch die Straßen des Zentralbezirks auf das nahe Ratsgebäude zu, dessen Fassade im Schein der Abendsonne glänzte. Unterwegs kümmerte sich ein Carya unbekannter Mann um ihr Schockhalsband, das sich mit etwas Fachkenntnis schmerzlos abnehmen ließ. Als sie den Vorplatz des Ratsgebäudes erreichten, sah Carya schon, dass bewaffnete Wacheinheiten am oberen Ende der Stufen vor dem Haupteingang Stellung bezogen hatten. Der Rat musste jeden verfügbaren Mann herbeordert haben. Dennoch handelte es sich höchstens um fünfzig Bewaffnete, die in einem losen Halbkreis die Türen bewachten – gegenüber der mehrtausendköpfigen Invitro-Menge eine lachhaft geringe Zahl.
»Emm, ihr müsst echt aufpassen«, warnte Carya ihre Begleiterin. »Das darf nicht in einem Gewaltausbruch enden.«
»Was redest du da?«, fragte Emm verwundert. »Wir sind friedlich, das siehst du doch. Wenn es zu Gewalt kommt, dann geht sie von denen da aus.« Sie deutete auf die Wachleute. »Ich hoffe mal, der Rat ist nicht so verrückt, auf uns schießen zu lassen. Zumal sie mit den paar Kameraden gegen uns niemals bestehen würden.«
In diesem Augenblick vernahmen sie ein lautes, mehrstimmiges Hupen. Es war nicht das Quäken einer Motorwagenhupe, sondern das kraftvolle Geräusch großer Fahrzeuge.
In den Demonstrationszug kam Unruhe, und Carya drehte den Kopf. Als sie sah, was da auf sie zurollte, riss sie erschrocken die Augen auf.
»Au Kacke«, entfuhr es Pitlit.
Es handelte sich um einen massigen gepanzerten Wagen mit einer riesigen Kanone, der von weiteren Militärfahrzeugen begleitet wurde.
Emm wurde kreidebleich. »Was ist das denn? Wo hat die Zonengarde solche Fahrzeuge her?«
Die Kolonne hupte erneut, außerdem sah Carya nun, dass auf dem Panzer und den anderen Gefährten Menschen saßen und winkten. Und dann erblickte sie die Gestalt in der schwarzen Templerrüstung mit dem hochgeklappten Helmvisier, die neben der Kanone stand. »Oh, Licht Gottes«, hauchte sie. »Das ist nicht die Zonengarde.« Ein Gefühl unbändiger Freude überkam sie, und sie lachte laut auf. »Das ist Jonan! Schau doch, Pitlit, es ist Jonan. Er hat es wirklich geschafft, die Kriegsgeräte aus dem Dorf der Ausgestoßenen zu holen.« Sie wirbelte zu Emm herum. »Die gehören zu uns! Das sind unsere Leute von der Bündnisarmee.«
Den anderen Invitros mussten sie das nicht mehr sagen, denn nach dem ersten Schrecken hatten auch diese begriffen, dass von den Neuankömmlingen keine Gefahr drohte, sondern dass es sich vielmehr um Verbündete handelte. Die Menge begann zu jubeln und ihre Schilder und Transparente zu schwenken. Die Wachen auf den Stufen des Ratsgebäudes wurden unruhig.
»Entschuldigt mich«, sagte Carya, dann fing sie an, sich durch die Menge zu drängen. Die Fahrzeuge bahnten sich langsam ihren Weg die verstopfte Hauptstraße hinunter. Während die Begleitfahrzeuge, ein Bus, ein kleinerer Panzer, zwei Lastwagen mit und zwei ohne Anhänger, auf der Straße stehen blieben, rollte die Kanonenplattform auf den Vorplatz direkt auf die Stufen zu. Es war eine machtvolle Geste, die bei einigen der Beschützer des Ratsgebäudes bereits Wirkung zeigte. Die Wachleute ließen die Waffen fallen und hoben die Hände.
»Jonan!«, schrie Carya und lief auf das Fahrzeug zu. »Jonan!«
Ungeachtet des Lärms, den das Fahrzeug und die Menge der versammelten Invitros verursachten, schien Jonan etwas gehört zu haben. Suchend drehte er sich hin und her. Hinter ihm begann sich der gewaltige Kanonenlauf zu heben.
»Hier bin ich, Jonan!«, rief Carya. Sie erreichte das gepanzerte Fahrzeug, dessen Räder fast so groß waren wie Carya selbst.
»Carya!« Endlich hatte Jonan sie entdeckt. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Er machte Anstalten, sie zu sich auf das Fahrzeug zu ziehen, doch dann hielt er inne. »Warte kurz«, sagte er, und sein Blick glitt zu dem Kanonenlauf, der sich mittlerweile hoch in die Luft erhoben hatte – er war direkt auf den riesigen, stilisierten Globus gerichtet, der sich zwischen den beiden schmalen Pyramiden drehte.
Er wird doch nicht …,
dachte Carya noch.
Weiter kam sie nicht, denn mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag entlud sich die Kanone. Die Menge schrie kollektiv auf. Ein gewaltiges Krachen folgte, und Carya, die wie alle Anwesenden auf
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