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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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das, als ob er schon halb im Schlaf wäre.
    Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log.
    «Es ist kalt», sagte sie und gähnte leise, «ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.»
    «Nacht», antwortete er und noch: «ja, kalt ist es schon ganz schön.»
    Dann war es still. Nach vielen Minuten hörte sie, daß er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, daß sie noch wach war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, daß sie davon langsam einschlief.
    Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.
    «Du kannst ruhig vier essen», sagte sie und ging von der Lampe weg. «Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen. Iß du man eine mehr. Ich vertrag es nicht so gut.»
    Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.
    «Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen», sagte er auf seinen Teller.
    «Doch. Abends vertrag ich das Brot nicht gut. Iß man. Iß man.»
    Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch.

Tui Hoo
    Während eine kleine pralle, wildlederne Wurst rhythmisch über den hellrotlackierten Fingernägeln hin und her fuhr, schob sich das Kalenderblatt vor die wässerigen Fischaugen Ludowicos: 25. April. – 25. April? Ludowico markierte einen asthmatischen Seufzer und ließ die Schultern wieder absacken: 25. April? Keine Ahnung. Die Wildlederwurst polierte leicht erhitzt, aber mit unvorstellbarem Stumpfsinn diese schaufelförmigen Fingernägel, die schon in allerhand Unrat gegraben haben mochten. Sie wußte auch nichts vom 25. April.
    Plötzlich hielt sie mitten in der Bewegung still, als horche sie nach der Uhr, in der es keuchend zu kichern anfing. Ganz still nicht, denn Ludowicos große, schwache Hand zitterte noch leicht von der Anstrengung des Polierens nach. Na ja, mit siebenundsechzig Jahren hatte man nicht mehr die Kräfte eines Jünglings, wenn man auch sonst – und aus dem Eckspiegel nickte es bejahend zurück – noch ganz passabel aussah. Oberkoch auf den großen Luxusdampfern der Überseelinien zu sein, war ein geistiger und künstlerischer Beruf, der keine Muskeln an den Armen züchtete. Als Stift, da man mit Riesenlöffeln in Riesensuppenkesseln herumgefuhrwerkt hatte, bekam man wohl ganz schöne Pakete am Oberarm, aber, mein Gott, das war ein halbes Jahrhundert her. Jetzt saßen die Pakete an der Gürtellinie, aber dafür waren die Geruchs- und Geschmacksnerven derart verfeinert, daß man es zu einem gewissen künstlerischen Ruhm gebracht hatte.
    Die Lederwurst schwebte so lange über der linken Hand, bis sich die muschelverzierte Uhr von ihren neun hustenden Stößen beruhigt hatte. Dann behauchten Ludowicos Karpfenlippen noch einmal zärtlich den viel zu langen Daumennagel,und das Wildleder bügelte die letzte Mattheit zu einem rosigen Hochglanz auf. Zwei dünne Arme und zwei dünne Beine stemmten die doppelzentnerschwere Rundlichkeit aus dem Korbsessel hoch, Lederwurst, Polierstein und Nagelfeile purzelten kopfüber in einen Kasten, und Ludowico bewegte sich in Richtung des Spiegels, um sich nach kurzer Kontrolle der Frisur befriedigt zuzuwinken: Also dann, Ludowico!
    Bevor ein italienischer Graf aus alkoholischem Übermut durch die Eßhalle geschrien hatte: Holla, alte Tonne, noch zwei Pfund Kaviar! Ludowico – Ludowico! Noch zwei Pfund Kaviar, hörst du? – bis dahin hatte Ludowico brav und bieder Ludwig Marusche geheißen, war in Hamburg-Altona geboren und kam gelegentlich mit dem kleinen Finger in die Nähe seiner Nasenlöcher. Inzwischen hatte sich Ludowico in einen flauschigen Mantel hineingewühlt, eine vornehme Melone auf den Hinterkopf gestülpt und stand nun unten vor der Haustür. Man war zwar mit siebenundsechzig nicht mehr so übermütig jung, aber man war noch ganz gut in Form und hatte sich ein schönes Sümmchen auf den Ozeanen zusammengekocht. Jetzt war man stiller und gutgekleideter Chef eines großen Nachtlokals, schlief bis zum Mittagessen und sah abends mal nach dem Rechten, winkte den Stammgästen ein Hallo zu und machte den ganz anständigen Mädchen ein paar nicht ganz so anständige, geflüsterte Komplimente. Das konnte man mit siebenundsechzig Jahren noch ganz gut, zumal die Goldgrube mit dem Namen ‹Rote Christine› in den süßen und geschäftstüchtigen Händen von Lotti und Irma war, die man irgendwo aufgelesen hatte und

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