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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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die jetzt an einem hingen wie zwei leibliche Töchter.
    Der Mond, die alte blasse Zitrone, seilte lautlos und lüstern um den schlanken Leib von St. Katherin, deren grünspanigesHaar wie ein eingeschlafener Möwenschrei über dem Mosaikteppich der dunkelroten Dächer stand. Der Nebel spukte in geflickten Unterhosen vom Hafen her durch die leeren Straßen, bis er träge an einer einsamen Laterne hängenblieb. Manchmal schrie eine Katze – oder eine Frau. Manchmal waren auch Schritte da, wuchsen von irgendwoher an und starben nach irgendwohin ab. Es ist eigentlich etwas still – dachte Ludowico und warf seine Beine beschleunigt aus den Bauchfalten heraus, als spekuliere ein wütender Hund von hinten her auf seine Hosen. Dünn und ängstlich kleckerte der Takt seiner Absätze gegen die endlosen Häuserwände, in denen nur hin und wieder ein grüner oder roter Lampenschirm die Langweiligkeit unterbrach.
    Es brummelte. Unten im Hafen. Es brummelte und grummelte, johlte und hohlte, pfiff und keifte. Und es lärmte langsam näher. Immer näher und immer lauter. Ludowico blieb stehen und stand wie ein Denkmal. Ohne Bewegung, ohne Gedanken, ohne Atem. Nur seine Ohren wuchsen, wuchsen ins Ungeheuere, wurden zu riesigen Trichtern, denen kein Glucksen und kein Mucksen entging. Und da kam ihm diese Musik plötzlich bekannt vor. Seine Hände flatterten hoch an den Hals, aber es gelang ihm kein Schrei mehr, denn da fegte Tui Hoo um die Ecke, schlug ihm schallend das Maul zu und jagte ihm den Angstschrei die Kehle wieder hinunter.
    Tui Hoo hatte keinen Respekt vor Denkmälern. Nicht etwa, weil sie feist waren und rotlackierte Fingernägel hatten – nein, Tui Hoo war kein Spießbürger, der sich über seinen Nachbarn aufregte, weil er einen komischen Hut trug. Er verkehrte häufig mit Damen, die Zigarren rauchten und heiser waren wie Gießkannen, oder mit Männern, die Ohrringe trugen und deren Hosenbeine weit waren wie Frauenkleider. Nein, kleinlich war Tui Hoo nicht. Aber Denkmäler,denen vor Bangbüxigkeit das Herz aussetzte, Denkmäler, die feige waren und nur siebenundsechzig Jahre alt wurden, weil andere mit fünfzehn Jahren dran glauben mußten – solche Denkmäler haßte Tui Hoo, und er sprang sie fauchend an, wie eine überreizte, ausgehungerte Raubkatze, wie – ja, wie ein regelrechter rebellischer Sturmwind, der gut und grausam war wie seine Mutter, das Meer, und der von Rechts wegen zwischen Heringskuttern und Holzfrachtern zu Hause war, der sich zwischen Toppmast und Klüverbaum mit einsilbigen Matrosen unterhielt. Aber manchmal verrannte er sich stromaufwärts in die Hafenstadt und dann rammelte und rasselte er an den Herzen und Fenstern der Wohlbehüteten, als wolle er auch sie seine Macht fühlen lassen. Und wenn Tui Hoo an Land ging, dann kaufte er sich immer einen guten alten Bekannten, der ihm auf See entgangen war und der auf See ein Hund war. Die kaufte er sich, Tui Hoo, der alte Zerzauste, das grüne, blaue Kind, das mit den Fischen spielte, Tui Hoo, der tolle Flötenspieler, der große Organist, der himmlische Musiker. Tui Hoo, der Atem der Welt.
    Kennst du ihn noch, Ludwig Marusche? Hö, Marusche, du kennst Tui Hoo nicht mehr? Tui hoo hoo – weißt du noch, Ludwig, als du vor zwanzig Jahren Koch auf der ‹Schwarzen Karin› warst? Hast du das ganz vergessen, harmloser älterer Herr, ja? Ganz vergessen?
    Mit schiefem Hals kämpfte Ludowico sich durch die stillen Straßen, in denen Tui Hoo auf seinem Leierkasten orgelte. Aber Tui Hoo, der Seewind, war kein langweiliger, zahnloser Leierkastenonkel, er war nicht umsonst mit allen Meerwassern gewaschen: hupp – nahm er den Alten unerwartet von hinten an, spielte mit dem vor Angst überlaufenden Doppelzentner Ball, faßte mit tausend Fingern die gewellte Tolle, ließ sie einen Atemzug lang steil zum Himmelstehen, und dann wirbelte er die steifen Pomadensträhnen so durcheinander, daß dem eitlen alten Buben der Angstschweiß in die Augenbrauen rieselte.
    In irrsinnigem Tempo hetzte Tui Hoo seine Opfer über lebensgefährlich holperiges Pflaster, pustete nebenbei die sowieso mageren Laternen aus und dann nahm er, als hätte er ihn vergessen, plötzlich seine Puste aus dem Segel, daß Ludowicos Mantel seine maßlosen, formlosen Blähungen verlor und wie ein Stück Kartoffelschale an ihm heruntertorkelte. Tui Hoo ließ ihn einfach stehen in der stockdunklen Nacht. Aber schon hob er den Taktstock für den nächsten Satz des tollen Konzertes. Den zu Tod

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