Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
Vom Netzwerk:
erschöpften Ludowico überfiel es an der nächsten Ecke mit tui und mit hoo von vorn, daß er die ganze Wucht seiner zwei Zentner dagegenstemmen mußte, um nicht aus den Lackschuhen zu kippen.
    Hoo hoo, Marusche, alte Sandale, hab ich dir deine Gehirnwindungen freigelegt von Staub und Angst und Kalk? Erinnerst du dich gnädigst, ja? Weißt du noch? Oh, du weißt noch! Vor zwanzig Jahren auf der ‹Schwarzen Karin›, wo die Maaten mich Tui Hoo nannten. Denkst du nicht mehr an die Nacht vom 25. April, alte feige Sandale, hoo?
    Ja, das war Tui Hoo, der Freund der Beherzten, der Feind der Feigen. Das war Tui Hoo, der den Mädchen die Röcke gegen die Knie drückte und die Fliegen von den Wiegen der Wickelkinder verscheuchte. Das war Tui Hoo, der als Würger und Zerschmetterer, der als Spuk, als Mörder und Totschläger zu seinen Feinden kam. Das war Tui Hoo!!! Und nun hustete und pustete er diesen abgewrackten, aufgetakelten, feisten Barbesitzer durch die einsame, sternenlose Nacht, durch eine Nacht ohne Erbarmen.
    Da stoben Fetzen Papier aus dem Rinnstein hoch – Zeitungspapier, Butterbrotpapier, zerrissene Liebesbriefe: Kalenderblätterohne Ende – 25. April – 25. April – 25. April. – Tui Hoo ballte seine Faust und hob sie zu einem unausweichlichen, unfehlbaren Schlag. Und er schrie den Koch der ‹Schwarzen Karin› an: Denk an den 25. April, du Hund! Und dann schlug Tui Hoo zu mit seiner ganzen Kraft, die Dächer abdeckte und Dreimaster häuserhoch schleuderte, und warf den Koch Ludowico Marusche von der ‹Karin› die Kellertreppe zu seinem eigenen Nachtlokal kopfüber hinunter, daß er schwer mit seinem vor Angst gelähmten Gehirnkasten gegen die Tür dröhnte.
    Die ‹Rote Christine› war eine seriöse Nachtbar – und wenn plötzlich etwas mit voller Wucht gegen die Tür donnerte, dann war das in der ‹Roten Christine› eine Sensation! Es dauerte einige Sekunden, bis Irma in dem über und über mit Dreck bespritzten alten Mann ihren Chef, ihren lieben guten Bubi erkannte. Das, was in den Nischen und auf den Barhockern saß, ergoß sich neugierig entsetzt aus der Bar um den Liegenden, der es sich so komisch verrenkt vor seiner eigenen Tür bequem gemacht hatte. Aber sie mußten ihn so auf der Kellertreppe liegen lassen, denn bei der geringsten Bewegung brach ihm das Blut aus dem verzerrten Mund.
    Hilflos, aufgescheucht und verlegen, frech oder sachlich umstanden die Helden des Nachtlebens den sterbenden Alten. Irma, pompös und üppig wie eine Wagnersängerin, hob seinen seltsam verdrehten Kopf von den kalten Steinstufen und bettete ihn in ihren warmen, weichen Schoß. Als wollte sie einen vom Gutestun erschöpften Gott pflegen, so andächtig liebevoll reinigte und kühlte die schwarzblauhaarige Lotti das entstellte Gesicht ihres guten alten Opas, aber es gelang ihr nicht, ihm die nackte, wahnsinnige Furcht aus den Falten zu wischen, wenn auch ihr Taschentuch in Sekt getaucht war. Lotti, gazellenzart, kniete neben dem leblosenFleischkoloß und suchte unter seinem breiten goldenen Armband seinen Puls. Und die dummen, stumpfen Nachtschattengewächse, die die beiden Barmädchen stumm und blaß umrandeten, wußten nicht, ob Lottis Blick Schreck oder Freude über den schwachen Herzschlag ausdrückte – und sie wußten nicht, ob Irmas kleine, mollige Hände aus Mitleid oder aus Mordlust an Ludowicos Kragen herumfingerten.
    Tui Hoo, der triumphierend auf der obersten Stufe der Kellertreppe hockte, wartete auf den Tod, und er wußte, daß er nicht lange mehr zu warten brauchte. Leichtfüßig erhob er sich, schlängelte sich durch den Kreis der Nachtschwärmer, daß diese unmerklich anfingen zu frösteln und setzte sich mit angezogenen Knien auf den runden, etwas zu vollen Oberschenkel Irmas, so, daß er ohne Anstrengung und in der allergrößten Behaglichkeit dem alten Ludowico noch eine kleine, eine ganz kleine Geschichte ins Ohr flüstern konnte.
    Nein, Ludwig Marusche, kein Wörtchen sollst du versäumen von der Geschichte vom 25. April, von der ‹Schwarzen Karin› und von Tui Hoo. Ich, Tui Hoo, der uralte junge Windgott der Weltmeere, hocke hier auf der ausgelatschten Kellertreppe eines anrüchigen Nachtlokals, um dir diese Geschichte noch einmal ganz genau in die Ohren zu pusten, alte Sandale, damit du wohl vorbereitet bist für den langen, langen Weg zur Hölle.
    Ludwig Marusche hob die gewölbten, faltigen Liddeckel. In seinen Pupillen gloste eine Angst, die so furchtbar war, daß kein Schrei sie

Weitere Kostenlose Bücher