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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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erlösen konnte. Hast du ganz vergessen, alte Sandale? Das war doch damals, als ich euch am späten Abend vom 25. April im Kattegatt erwischte und ein paar Stündchen vor mir hertrieb – mit tui und mit hoo! Es war eine Hundekälte, und ich war zu den besten Streichen aufgelegt,als ich eure Nußschale zwischen den Mammutwellen sah. Die Leute waren müde wie die Fliegen und der Alte war Tag und Nacht nicht von der Brücke gekommen. Aber davon hast du natürlich nichts gemerkt, denn in deiner Kombüse war es warm und so windstill, daß man den Luftzug spüren konnte, den eine Kakerlake machte, die um den Kaffeekessel kurvte.
    Da flog ein Maat durch die Tür vor deine Töpfe. Der Alte wollte eine Buddel heißen Tee haben. Aber du solltest sie ihm selbst bringen, damit dein fünfzehnjähriger Kombüsenstift nicht vom Wind von Deck gefegt würde. Und der Wind war ich, Marusche, weißt du das nicht mehr? Was warst du für ein Angsthase, Dicker! Zehn Schritte kamst du mit deinem Tee, da konntest du mein sanftes Liedchen nicht mehr ertragen in deinen hängenden Plüschohren. Eine ganz erbärmliche, hündische Angst saß dir in den Speckfalten deines Nackens und rutschte dann unvermutet in den Magen, als ich zwischen deinen Beinen einen Salto machte. Pfui Teufel, Suppenkönig, so leidenschaftlich hattest du in keiner Nacht ein Hafenmädchen umarmt, wie in der Nacht vom 25. April den Mast, der dir als hilfreicher Engel in die Quere kam. Einen Augenblick hingst du wie ein leerer Anzug am Baum, aber dann packte dich der Mut eines Generals, und mit vier gewaltigen Sätzen hattest du deine rettende Kombüse wieder erreicht. Und Heini Hagemann, dein kleiner Stift, hatte plötzlich die Teebuddel im Arm und wurde von dir zum Alten in die nebelige Nacht hinausgeschickt. Der Tee kam nie zum Alten. Heini kam nie zur Brücke. Die Teebuddel wurde morgens irgendwo gefunden. Heini Hagemann nicht. Er wurde morgens nicht gefunden. Und abends nicht. Und nicht am anderen Tag. Weil ein erwachsener Mann ein Feigling war! Du bist ein undankbares Schwein, wenn du vergessen konntest, daß du nur deswegensiebenundsechzig Jahre alt werden durftest, weil der kleine Heini Hagemann dir mit seinen fünfzehn Jahren den Weg abgenommen hat. Aber laß man gut sein, Marusche, in ein paar Sekunden schon wirst du deinem Küchenjungen begegnen. Glotze nicht so entsetzt, Alter. Heini Hagemann hat sich auch zusammengenommen, als er über Bord ging. Er war ganz still, der Kleine.
    Die weit aufgerissenen Augen des Herrn Marusche überzogen sich mit einem milchigen Hauch. Vielleicht war es doch ein kleines, gemeines Lächeln, das um Lottis blutroten Mund huschte. Und dann entließen seine fischmäuligen Lippen den letzten Atem: tui – – hoo – – –
    Übermütig riß Tui Hoo der blonden Irma eine Locke aus der kunstvollen Frisur und ließ sie auf der Stirn hin und her pendeln. Dann ramenterte er singend und pfeifend durch die Mauer der mitleidigen Gaffer – hoo tui hoo – stromabwärts den großen Wassern zu.

Marguerite
    Sie war nicht hübsch. Aber sie war siebzehn und ich liebte sie. Ich liebte sie wirklich. Ihre Hände waren immer so kalt, weil sie keine Handschuhe hatte. Ihre Mutter kannte sie nicht, und sie sagte: Mein Vater ist ein Schwein. Außerdem war sie in Lyon geboren.
    Einen Abend sagte sie: Wenn die Welt untergeht – mais je ne crois pas –, dann nehmen wir uns ein Zimmer und trinken viel Schnaps und hören Musik. Dann drehen wir das Gas auf und küssen uns, bis wir tot sind. Ich will mit meinem Liebling sterben, ah oui!
    Manchmal sagte sie auch mon petit chou zu mir. Mein kleiner Kohl.

    Einmal saßen wir in einem Café. Die Klarinette hüpfte wie zehn Hühner bis in unsere Ecke. Eine Frau sang sinnliche Synkopen, und unsere Knie entdeckten einander und waren unruhig. Wir sahen uns an. Sie lachte, und darüber wurde ich so traurig, daß sie es sofort merkte. Mir war eingefallen – ihr Lachen war so siebzehnjährig –, daß sie einmal eine alte Frau sein würde. Aber ich sagte, ich hätte Angst, daß alles vorbei sein könnte. Da lachte sie ganz anders, leise: Komm.
    Die Musik war so mollig gewesen, daß uns draußen fror, und wir mußten uns küssen. Auch wegen den Synkopen und dem Traurigsein.
    Jemand störte uns. Es war ein Leutnant und der hatte kein Gesicht. Nase, Mund, Augen – alles war da, aber es ergab kaum ein Gesicht. Aber er hatte eine schöne Uniform an und er meinte, wir könnten uns doch nicht am hellichten Tage (und das

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