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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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brennen. Jeden Tag. Alle Tage.

Alle Milchgeschäfte heißen Hinsch
    Alle Milchgeschäfte heißen Hinsch. Hinschens sind blond, riechen satt und gesund wie frische Pfirsiche oder Säuglinge. Hinschens haben rote, riesige Hände. Hinschens haben die roten Hände nicht, weil sie Wasser mit der Milch verkuppeln. Die roten Hände kommen vom Kannenwaschen und Flaschenspülen. Die Kannen sind schwer und die Flaschen sind glatt – deswegen oder davon sind Hinschens Hände rissig.
    Herr Hinsch ist groß, langsam und gut. Frau Hinsch ist klein und schnell, und sie ist auch gut. Elsie, die Tochter, ist mittelgroß, müde im Tempo und mucksch.
    Alle drei Hinschens leiden im Winter an kalten Füßen, denn der Fußboden ist aus Steinfliesen, weil man die besser sauberhalten kann. Im Winter tragen Hinschens schwarze Wollstrümpfe in ihren Holzpantoffeln – und dicke graue Schals um die Hälse. Im Winter haben alle drei Hinschens rote Nasen, Frost in den Fingern und chronischen Schnupfen.
    Im Sommer sind Hinschens die einzigen Menschen in unserer Gegend, die nicht übermäßig zu schwitzen brauchen, denn der Fußboden ist aus Steinfliesen, weil die leichter sauberzuhalten sind. Im Sommer finden Hinschens – mit erstaunten Mündern – die Hitze doch ganz erträglich und sie behalten ihren pfirsichfrischen Geruch. Dann werden sie von allen Kunden beneidet. Auch, weil sie dann mehr Buttermilch haben und ihr Geschäft um halb fünf zuschließen können, weil die Milch dann alle oder sauer ist. Herr Hinsch ist groß, gut und gemäßigt grämlich. Frau Hinsch ist klein, flink und freundlich. Aber Elsie ist mucksch. Schon immer. Seit sie fünfzehn Jahre alt war, ist sie so. Vorher war sie, wie alle sind.
    Nachts rumpumpeln die gewaltigen Überlandwagen wieüberschwere Artillerie durch die verstummten Straßen und bleiben tief innerlich schnaufend und mit allerlei Eingeweiden rasselnd – als hätten sie verrostete Bronchien – vor den Milchläden stehen. Sie kommen nachts, damit die Menschen morgens Milch zum Kaffee nehmen können. Die Fahrer, die Bändiger dieser glutäugigen Untiere, sind Idealisten und Helden. Sie nehmen den mürbemachenden Minnedienst in den ungeahnten Gefahren der Nacht auf sich, damit man morgens Milch zum Kaffee trinken kann.
    Damals war Elsie fünfzehn verspielte normale Jahre alt, blond und beinahe zu gut genährt. Damals kamen auch die Milchwagen – nachts – und dann verließen die drei Hinschens das ereignislose Paradies ihrer Betten so selbstverständlich (auch ohne schwertbehangenen Engel!), so selbstverständlich gaben sie die weiche Wärme ihrer Betten auf, als ob es nichts Selbstverständlicheres auf der Welt gäbe, als nachts neunzehn volle Milchkannen abzuladen und neunzehn leere Kannen aufzuladen.
    Elsie war sehr blond und sehr gut genährt und sie war fünfzehn Jahre alt, und es war eine geheime Lust für sie, das von allerhand seltsamen Träumen überhitzte Bett zu verlassen und unter den geheimnisvollen Sternen einige und windkühle Eisenkannen gegen die dünnen Kleider zu drängen. Das war wie Eisessen, wie Baden oder Limonadetrinken im Sommer – nur merkwürdiger.
    Die heldischen Reiter der mehrachsigen, spritsaufenden Milchkühe, diese Cowboys der Großstadt, hatten das sehr bald herausgekriegt, das Blonde, Breithüftige, das nachts so nach Abkühlung verlangte. Mein Gott, im Mondlicht sind alle Mädchen Madonnen, auch die breithüftigen.
    Helden, selbst wenn sie Idealisten sind, Helden, die sich nachts schnell neben den Wagen stellen, um das Bier der letzten Stadt loszuwerden – gleich, ob die Frauen oder Töchterder Hinschens (denn alle Milchleute heißen Hinsch) ihnen zusehen oder nicht – diese Helden sind niemals zimperlich. Helden können nicht die Behutsamkeit von Feiglingen haben – sie müssen gewalttätig und brutal sein.
    Trotzdem ließ sich das Kind mit den breiten Hüften vor Schreck und Angst die schwere Kanne auf den Kopf fallen, als sie sie mit beiden Armen zum Wagen hochstemmen wollte und plötzlich einen Mann durch ihre Röcke an sich fühlte.
    Der Held hatte diesen Augenblick, in dem sie die Brust so aufdringlich vorreckte, aber mit beiden Händen die Kanne umklammern mußte, für den günstigsten gehalten, und seine Arme, die gewohnt waren, mit mehreren hundert Pferdekräften umzuspringen, griffen nicht sonderlich zartfühlend zu (das können Helden sich nie erlauben!).
    Blonde Mädchen, denen im Sommer das Bett und das Blut zu heiß wird, brauchen nicht immer eine

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