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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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wieder das Lutschen an allenEnden. Und beinahe zweihundert Herzen schlagen. Der Film begann.
    Hinterher kann man das nie mehr so genau auseinanderhalten. Auf jeden Fall wurde sehr viel geschossen, geritten, geraubt und geküßt. Alles war in Bewegung. Und vor der Leinwand zweihundert lutschende Zungen. Wenn man nachher im Hause erzählen sollte, wußte man nur noch, daß geschossen, geritten und geraubt wurde. Das Küssen unterschlug man. Das war ja sowieso Quatsch.
    Je mehr auf der Leinwand geritten und geschossen wurde, um so mehr wurden die Rahmbonbon von einer Backe in die andere geschoben. Und das konnte man alles hören. Eine wüste Flucht zu Pferde auf der Leinwand – und das Lutschgeräusch schwoll an wie ein Wasserfall.
    Es roch nach Kindern, Aufregung, Bonbon. An allen Enden nach Rahmbonbon.
    Plötzlich, gerade wurde der blonde, heldenmütige Held auf seinem treuen Schimmel von sieben schwarzbärtigen Räubern über die Leinwandprärie gejagt – gerade sandte er einen dringenden Heldenblick zum düster bewölkten Tragödienhimmel –, gerade zogen die verbrecherischen Verfolger ihre haarscharfen Trommelrevolver und verbargen sich hinter einer riesigen Hecke von blühenden Kakteen – da schrie es!
    Das war an sich nichts Besonderes, denn alle aufregenden Vorgänge auf der Leinwand wurden mitfühlend durch die Aufschreie von zweihundert Kindermäulern untermalt und kommentiert. Aber dieser Schrei war aus der Art gefallen. Er war zu groß und zu erschrocken. Es lief mir heiß den Rücken herauf. Und mir ganz besonders, denn der geschrien hatte, war mein Vetter. Und dann schrie er noch einmal. Laut und wehklagend wie ein getretenes Hündchen. Und dann zum drittenmal: Entsetzt und nicht zu überhören. So schrie mein Vetter.

    Er hatte Erfolg. Das, was über die Leinwand gelaufen war, blieb mitten im Laufen stehen und surrte nicht mehr. Die Musik machte auch nicht mehr mit, und das Licht ging an.
    Es war nicht leicht, aus dem Heulenden, Schimpfenden, Schluchzenden, das vorher mein Vetter gewesen war, herauszubekommen, was den Ansporn zu seinem dreiteiligen Schrei gegeben hatte. Aber dann verstand man ihn doch und der Kinobesitzer, der zugleich Kassierer und Rahmbonbonverkäufer war, widmete seinen Rahmbonbon einen männlichen Fluch. Und insbesondere den Rahmbonbon, die er an meinen Vetter verkauft hatte.
    Aber Schuld hatte er natürlich selbst, mein Vetter. Wie oft und eindringlich war ihm zu Hause und vom Zahnarzt eingeschärft worden, um Himmels willen nie und niemals Rahmbonbon zu essen. Er hatte es trotzdem getan. Dabei war es passiert. Der Stiftzahn – mein Vetter trug damals schon, und er wurde von uns allen bestaunt und darum geachtet, einen richtigen Stiftzahn – dieser Stiftzahn hatte sich von der Rahmbonbonmasse betören lassen und hatte seinen Stift heimlich verlassen.
    Und da mein Vetter bei den atemberaubenden Vorfällen auf der Leinwand den Mund vor Atemnot weit aufsperrte, war der Stiftzahn heimtückisch und häßlich aus der Gemeinschaft seiner Brüder entflohen und abenteuersüchtig unter den Bänken des Kinos von dannen gerollt.

    Nach zehn Minuten mußte das Suchen aufgegeben werden. Der Stiftzahn hatte zu viele Vorteile für sich. Wer hätte sich erkühnen wollen, unter den dunklen Bänken, auf denen zweihundert Kinder hin und her rutschten, einen Stiftzahn wiederzufinden? Pfeifen und Rufen half erst recht nichts. Vielleicht hatte er längst als herzklopfenmachende Beutein einer fremden Hosentasche Unterkunft gefunden. Jedenfalls war er weg.
    Es wurde wieder dunkel, die Leinwand wurde wieder hell und bewegte sich da weiter, wo sie stehengeblieben war. Und die Musik machte auch wieder mit. Und neben mir schwiegen schwermütig die tränenerstickten Reste meines vorhin noch stolz lutschenden Vetters.

    Einmal geht alles zu Ende. Am ehesten eine Kindervorstellung im Vorstadtkino. Die Leinwand konnte nicht mehr, die Musik auch nicht. Sie waren auch überanstrengt, deswegen machten sie Schluß. Aber dafür gingen zwei immer wieder überraschende Seitentüren vorne auf und ließen weiß und blendend den hellen sonntäglichen Sonntagmittag in das Kino herein. In wenigen Minuten plapperten und klapperten die Zweihundert aus den Türen und ihrem sonntäglichen Abenteuer an die sonntägliche Luft.

    Als allerletzte, mit verfinsterten Gemütern und dunklen Vorahnungen, mein zahnloser Vetter und ich. Wir sahen uns an. Stumm und gefaßt. Und beinahe männlich. Trotz unserer zwölf Jahre beinahe schon

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