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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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breithüftige Seele zu haben. Ihre Seele kann einfältig und zerbrechlich wie Kinderspielzeug sein – und Erwachsene zerdrücken es in einer Sekunde. Mädchen, die Milchkannen anpacken wie Artilleristen ihre Granaten und den Druck des harten Metalls wohlig auf der Haut empfinden, brauchen nicht unbedingt eine breitbusige Seele zu haben. Es kommt vor, daß sie die süßeste, sauberste und silbrigste Seele von der Welt haben – süß wie Blumenduft, sauber wie frische Milch und silbrig wie die Feenflügel mancher nächtlicher Insekten.
    Der Held, der Herr über ein Heer von Pferdekräften war, verlor die Herrschaft über sein Herz. Über sein Herz? Doch, vielleicht auch über sein Herz. Er wollte Elsie nehmen wie eine Kurve, in die man – ohne Gas wegzunehmen – hineingeht, er wollte sie herumwerfen, wie er sein Lenkrad herumkriegte, und von ihr wie von einer Milchkanne mit seinen behaarten Tatzen Besitz ergreifen.
    Aber da war die silberige Seele, die hauchempfindlich und verletzlich war wie der Glanz auf Mottenflügeln, zu Tode erschrocken unter den öligen Pranken der Wirklichkeit – blitzschnell stahl sich die volle Kanne aus den entseelten Händen und schlug eine unheimliche Glut aus dem Mädchenkopf: auf dem blonden Scheitel blühte dickes, dunkles Blut.
    So war das damals, als Elsie nach langem Krankenlager nicht mehr war wie sonst, nicht mehr war wie alle. Sie verkümmerte wie eine Primel, der die Leute kein Wasser bewilligten und der das Fenster, hinter dem sie nun stehen muß, keine Sonne gönnte.
    Die Leute sagten: Sie ist schräge. Hinschens sagten: Sie ist mucksch. Sie selbst sagte nichts. Sie gab überhaupt nur noch Stichworte zu ihrem Leben, denn ihre silberige Seele, die zerdrückt war wie ein Mottenflügelchen, umschwärmte immer noch ihren Helden, der sein Gehirn vielleicht längst an einem Chausseebaum oder an einem Brückenpfeiler dem Gott der Technik geopfert hatte. Vielleicht hatte er sich auch sein unbeherrschtes, liebestolles, übervolles Herz von den nilpferdhäutigen grauen Gummirädern eines fremden Überlandwagens breitwalzen und ausquetschen lassen, daß ihm Sehen, Hören und Vergewaltigen für dieses Dasein vergangen war.
    Wenn nächstens die massigen Milchautos vor Hinschens Schlafzimmerfenster zitternd, ächzend und polterig bremsen, dann erhebt sich mit den drei Hinschens – Vater Hinsch, Mutter Hinsch und Tochter Hinsch – auch Elsies unruhige Seele und fängt an, von dem Glockengedröhn der aufs Pflaster wuchtenden und aneinanderschlagenden, klagenden Milchkannen aufgeregt und aus ihrem Primelstumpfsinn aufgescheucht, mit zerdrücktem Mottenflügel scheu versteckte, aber doch berauschende Flugversuchezu machen. Vielleicht sucht sie ihren Helden mit dem Vorsatz, nun nicht mehr so ängstlich zu sein wie damals – aber sie wird ihn nicht finden. Und sie liegt noch lange, wenn das Milchauto verschwunden und sein Glockenläuten verstummt ist, wach.

Der Stiftzahn oder
Warum mein Vetter keine Rahmbonbon mehr ißt
    Es war ein niedliches kleines Kino. Und niedrig. Es roch nach Kindern, Aufregung, Bonbon. Es roch im ganzen Klub nach Rahmbonbon. Das kam davon, weil man vorne neben der Kasse welche kaufen konnte. Für zehn Pfennig fünf Stück. Deswegen roch es nach Rahmbonbon an allen Enden. Aber sonst war es ein niedliches Kino. Und niedrig. Es gingen kaum zweihundert Menschen hinein. Es war ein richtiges kleines Vorstadtkino. Eines von denen, die man gutmütig Flohkiste nennt. Ohne Gehässigkeit. Unser Kino hieß Viktoria-Lichtspiele. Sonntags nachmittags gab es Kindervorstellungen. Für halbe Preise. Aber die Rahmbonbon waren beinahe noch wichtiger. Sie gehörten dazu, zum Sonntag, zum Kino. Fünf Stück einen Groschen. So rentierte sich das auch für den Besitzer.

    Leider besaß mein Vetter dreißig Pfennig. Das waren eine Unmasse Rahmbonbon. Wir waren mit die Glücklichsten unter den zweihundert Kindern. Ich nämlich auch. Denn ich saß neben ihm und dafür war er mein Vetter. Wir waren sehr glücklich. Das
leider
kam erst später.

    Dann wurde es langsam und genießerisch dunkel. Das schmatzende Lutschgeräusch von zweihundert Mäulern flaute augenblicklich ab. Statt dessen wälzte sich ein Indianergeheul, Fußgetrampel und anhaltendes Pfeifkonzert durch das kleine Kino. Selige Freudenkundgebung allsonntäglich zum Beginn der Vorstellung.
    Dann war es dunkel. Die Leinwand wurde hell, und hinten surrte etwas. Dann gab es auch noch Musik. Das Indianergeheul brach ab. Man hörte

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