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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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männlich. Mir kam es allerdings so vor, als ob in den Augen meines Vetters eine ungeheure Warnung für mich lauerte. Diese Warnung sagte: Wenn du jetzt anfängst zu lachen, hau ich dich tot!
    Ich lachte nicht. Ich lachte erst fünf Minuten später. Dann aber um so ausführlicher.

    Wir waren nur noch zwei, drei Schritte vom Ausgang entfernt, und die Sonntagssonne kam uns, gänzlich unangebracht, freudestrahlend entgegengeblinzelt, da schrie es abermals. Diesmal war ich es, der schrie.
    Ich stand und blieb stehen, als ob meine Zehen in einerMausefalle säßen. Dann schrie auch ich zum zweitenmal. Siegesbewußt:
    Mensch, ich hab ihn!
    Mein Vetter konnte nur dumm flüsternd fragen: Wen?
    Da schrie ich zum drittenmal: Mensch, den Stiftzahn! Ich stehe drauf!
    Und damit nahm ich meinen Fuß von dem dicken, roten, dreckigen Teppich hoch. Da lag der Stiftzahn und tat, als ob nichts geschehen wäre! Das harte Steinchen, das gegen meine Sohle gedrückt hatte, war der treulose Zahn. Vierhundert Füße hatten ihn wohl durch das Kino vor sich hergestoßen. Allein hätte er sich kaum so weit gewagt.
    Mein Vetter schrie nun auch noch einmal zum Abschluß.
    Dann riß er den Stiftzahn an sich, strahlte ihn mit beiden Augen strafend aber doch selig an und beförderte ihn – ohne ihn wenigstens an der Jacke abzuwischen – wieder an seinen Platz.

    Und dann konnten wir endlich lachen. Bis uns die Tränen in den sauberen Sonntagskragen liefen. Denn auch mein Vetter hätte furchtbar gern gelacht, als der Zahn plötzlich nicht mehr da und weg war. Wenn es nur nicht gerade sein eigener Zahn gewesen wäre. Aber jetzt war er wieder an Ort und Stelle und wir sahen nicht ein, warum wir uns jetzt nicht halbtot lachen sollten.

    Rahmbonbon hat mein Vetter nie wieder angesehen. Nicht mal angesehen. Ich kann das verstehen.

Das Gewitter
    Der Himmel war grün. Und es roch nach Angst. Der Abend roch nach Bier und gebratenen Kartoffeln. Die engen, endlosen Straßen rochen nach Menschen, Topfblumen und offnen Schlafzimmerfenstern.
    Der Himmel wurde gelb wie Gift. Die Welt verstummte vor Beklemmung. Nur ein Riesenautobus schnob urweltlich und asthmatisch vorbei. Er ließ eine Andeutung von Ölruch in der Luft.
    Die Alster erbleichte und starrte wie ein furchtvolles Tierauge zwischen den Häusermassen zum Himmel. Sie sah das Unabwendbare auf sich zukommen. Und sie erbleichte, daß es aussah, als hätten hunderttausend Fische plötzlich ihre Bäuche nach oben gekehrt. Die Kirchtürme waren ganz nah und wie nackt. Die Stadt duckte sich.
    Auf einer Hauswand schleimten sich zwei Schnecken in weltentrückter Gelassenheit grußlos aneinander vorüber. Über sechs Stunden klebten sie sich gegenüber und jede von ihnen hatte erwartet, daß die andere ausweichen würde. Dann setzten sie sich endlich solidarisch zu gleicher Zeit in Bewegung. Und jede machte einen dünnen, glitschigen Silberstrich an die Wand.
    Aus dem vielstockigen Haus kam kaum ein Laut. Eine Tür miaute. Und ein Kind fragte etwas. Sonst nichts. Nur unten im Hausflur klopften zwei Herzen. Die gehörten einem jungen Mann und einem Mädchen.
    Als sich die beiden Schnecken unter den Blicken der beiden Menschen eine Handbreit voneinander entfernt hatten, klirrte laut und unmißverständlich ein Fenster zu. Ein überraschender Wind jaulte auf, hob einen Fetzen Papier auf, klöterte eine leere Konservendose gegen die Steine und jachterte wie hundert hungrige Hunde durch die gelähmteStadt. Riesige Regentropfen klatschten kalt und rhythmisch auf die Straßen.
    Als der erste Blitz wie ein Riß über den Himmel ging, griff das Mädchen nach der Hand des jungen Mannes und drückte sie gegen ihre Brust. Der Donner bellte gereizt über den Dächern. Die beiden Menschen schlossen für Sekunden die Augen.
    Der junge Mann war ein typischer Mann. Er wollte die so leicht gewonnene Stellung nicht nur halten, sondern nannte das Gewitter für sich ein unverschämtes Glück. Und er legte die andere Hand daneben und zog das ganze an sich.
    Das Ganze, das Mädchen, sah ihn an, als sähe sie ihn zum erstenmal. Er nickte ihr großartig zu: Ja, das habe ich nun getan. Aber da nahm sie seine Hände von sich ab, schnell und stumm. Und weil sie ihn verstand, atmete sie erregt: Ja, du, das verstehe ich nicht. Dann lief sie in den Regen hinaus.
    Der junge Mann war ein typischer junger Mann. Er sah die unwahrscheinlich dicken, nassen Tropfen und hob die Schulter: Nein, ich verstehe das auch nicht. Kopfschüttelnd nahm er die

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