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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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antwortete sie, und ihre Augen sahen dazu etwas doof aus, ich wohne hier. Die Catharinenstraße ist das nicht. Ich wohne hier.
    Leise lachte das Schlüsselbund.
    Der junge Mann staunte: Nicht die Catharinenstraße? Nein, flüsterte sie. Ja, was soll ich denn hier, mein Gott! Ich will doch zur Catharinenstraße. Er sagte das sehr laut. Ihre Stimme wurde ganz klein: Ich wohne hier. In diesem Haus hier. Und sie klickerte mit dem Schlüsselbund.
    Da begriff er. Er ging dicht an die blasse, ovale Scheibe heran. Sie hat eine Brille, und ihre Augen sind wie Gelee, so doof, so wässerig – dachte er. Hier wohnst du, fragte er und griff nach ihr, allein? Ja – – natürlich – – allein. Sie sagte das in großen Abständen. Ihre Stimme war so neu, daß sie selbst erschrak. So war die Stimme in den ganzen siebenunddreißig Jahren nicht gewesen, als sie sagte: Ich habe ein Zimmer.
    Er ließ sie los und fragte: Und die Catharinenstraße? Sie ist da, antwortete sie und ihre Stimme wurde wieder halb so wie früher. Da, die zweite links. Zweite links, sagte er und drehte sich um. Und durch den diesigen Nachmittag kamnoch ein sich entfernendes Danke. Aber das war schon weit, weit ab. Dann vertropften seine Schritte unaufhaltsam und sackten in der Catharinenstraße ganz weg.
    Nein, er sah sich noch um. Ein grauer Fleck starrte hinter ihm her, aber das konnte auch das Haus sein. Das Haus war schmal und hoch und grau. Die mit ihren Geleeaugen, dachte er. Wie Gelee waren die, so doof hinter der Brille. Mein Gott, mindestens vierzig war sie schon. Und dann sagt sie plötzlich: Ich habe ein Zimmer. Er grinste den späten Nachmittag an. Dann bog er in die Catharinenstraße ein.
    An dem grauen, schmalen Haus klebte ein grauer Fleck. Der atmete und flüsterte vor sich hin: Ich dachte, er wollte was. Er sah mich so an, als ob er gar nicht zur Catharinenstraße wollte. Nein, aber er wollte wohl nichts.
    Ihre Stimme war wieder ganz wie früher. Wie sie schon siebenunddreißig Jahre lang gewesen war. Verständnislos schwammen ihre blassen Augen hinter den dicken Brillengläsern hin und her. Wie in einem Aquarium. Nein, er wollte nichts.
    Dann schloß sie die Tür auf. Und das Schlüsselbund, das lachte. Lachte leise. Ganz leise.

Die Kirschen
    Nebenan klirrte ein Glas. Jetzt ißt er die Kirschen auf, die für mich sind, dachte er. Dabei habe ich das Fieber. Sie hat die Kirschen extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Jetzt hat er das Glas hingeschmissen. Und ich hab das Fieber.
    Der Kranke stand auf. Er schob sich die Wand entlang. Dann sah er durch die Tür, daß sein Vater auf der Erde saß. Er hatte die ganze Hand voll Kirschsaft.
    Alles voll Kirschen, dachte der Kranke, alles voll Kirschen. Dabei sollte ich sie essen. Ich hab doch das Fieber. Er hat die ganze Hand voll Kirschsaft. Die waren sicher schön kalt. Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt für das Fieber. Und er ißt mir die ganzen Kirschen auf. Jetzt sitzt er auf der Erde und hat die ganze Hand davon voll. Und ich hab das Fieber. Und er hat den kalten Kirschsaft auf der Hand. Den schönen kalten Kirschsaft. Er war bestimmt ganz kalt. Er stand doch extra vorm Fenster. Für das Fieber.
    Er hielt sich am Türdrücker. Als der quietschte, sah der Vater auf.
    Junge, du mußt doch zu Bett. Mit dem Fieber, Junge. Du mußt sofort zu Bett.
    Alles voll Kirschen, flüsterte der Kranke. Er sah auf die Hand. Alles voll Kirschen.
    Du mußt sofort zu Bett, Junge. Der Vater versuchte aufzustehen und verzog das Gesicht. Es tropfte von seiner Hand.
    Alles Kirschen, flüsterte der Kranke. Alles meine Kirschen. Waren sie kalt? fragte er laut. Ja? Sie waren doch sicher schön kalt, wie? Sie hat sie doch extra vors Fenster gestellt, damit sie ganz kalt sind. Damit sie ganz kalt sind.
    Der Vater sah ihn hilflos von unten an. Er lächelte etwas. Ich komme nicht wieder hoch, lächelte er und verzog dasGesicht. Das ist doch zu dumm, ich komme buchstäblich nicht wieder hoch.
    Der Kranke hielt sich an der Tür. Die bewegte sich leise hin und her von seinem Schwanken. Waren sie schön kalt? flüsterte er, ja?
    Ich bin nämlich hingefallen, sagte der Vater. Aber es ist wohl nur der Schreck. Ich bin ganz lahm, lächelte er. Das kommt von dem Schreck. Es geht gleich wieder. Dann bring ich dich zu Bett. Du mußt ganz schnell zu Bett.
    Der Kranke sah auf die Hand.
    Ach, das ist nicht so schlimm. Das ist nur ein kleiner Schnitt. Das hört gleich auf. Das kommt von der Tasse, winkte der

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