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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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eine Schnecke und backte sie wieder dahin, wo sie vor einer Stunde gewesen war. Er wischte sich die Hand an der Hose ab und setzte sich erschlagen auf die Treppe. Er kaute grimmig auf einem Gummiband.
    Allmählich verblaßten die Blitze. Die Donner dämpften ihre Wut. Die Alster schwatzte glucksend mit den dicken Regentropfen. Es roch fruchtbar nach Milch und Erde. Die Rinde der Bäume war blaugrau und blank wie die Haut eines Elefanten, der eben aus dem Fluß steigt. In einer Nebenstraße zischte ein Auto durch die Pfützen.
    Der junge Mann sah abschätzend zum Himmel. Da hing ein schmaler Mond. Der Himmel war durchsichtig und sauber wie eine frisch geputzte Fensterscheibe. Die Luft warseidig und die ersten Sterne stickten ein zaghaftes Muster in die aufkommende Nacht. Man hörte die Menschen tief atmen im Schlaf. Aber die Bäume, die Blumen und das Gras waren wach und tranken. Der letzte Donner war so klein, als wenn ein Kind einen Stuhl rückt.

Die Mauer
    Zuletzt bleibt nur der Wind. Wenn alles nicht mehr sein wird, Tränen, Hunger, Motor und Musik, dann wird nur noch der Wind sein. Er überdauert alles, Stein und Straße, selbst die unsterbliche Liebe. Und er wird in dem kahlen Gesträuch über unsern verschneiten Gräbern tröstlich singen. Und er wird an den Sommerabenden mit den süßen Blumen verliebt tun und ihnen zum Tanz spielen – heute, morgen, immer.
    Er ist die erste und letzte große Symphonie des Lebens und sein Atem ist die ewige Melodie, die über Wiege und Sarg singt. Und neben seinem Raunen, Orgeln, Lispeln, Donnern und Pfeifen hat nichts anderes Bestand. Auch der Tod nicht, denn der Wind singt über den Kreuzen und Knochen und wo er singt, da ist das Leben. Denn die Blumen sind ihm verfallen und sie lachen über den knochigen Tod, die Blumen und der Wind.
    Weise ist der Wind, denn er ist alt wie das Leben.
    Weise ist der Wind, weitlungig und weich kann er säuseln, wenn er will.
    Sein Atem ist eine Macht und es gibt nichts, das ihn hindert.

    Es war eine vereinsamte, zerborstene alte Mauer, die einmal zu einem Haus gehört hatte. Nun stand sie wankend und sah hohläugig nach dem Sinn ihres Lebens aus. Und sie hob sich dunkel in den Himmel, drohend, demütig, verlassen.
    Als der Abendwind sie in seine weichen Arme nahm, schwankte sie leise und seufzte. Seine Umarmungen waren warm und weich, denn die Mauer war alt und gebrechlich und traurig geworden. Seine Umarmung tat ihr gut, sie war so weich, und sie seufzte noch einmal.
    Was hast du? fragte zärtlich der junge Wind.
    Ich bin einsam. Ich bin sinnlos. Ich bin tot – seufzte die alte Mauer.
    Ach, du bist traurig, weil sie dich vergessen haben. Du hast sie ein Leben lang geschützt, ihre Wiegen, ihre Hochzeiten, ihre Särge. Aber sie haben dich vergessen. Laß sie, die Welt ist undankbar – das wußte der junge Wind, der so weise war.
    Ja, sie haben mich vergessen. Ich habe meinen Sinn verloren. Oh, sie sind undankbar, die Menschen – klagte die alte Mauer.
    Mach Schluß! – hetzte der Wind.
    Wieso? fragte die Mauer.
    Räche dich – wisperte der Wind.
    Wie denn? wollte sie wissen.
    Stürze – raunte er wollüstig.
    Warum? gab sie zitternd zurück.
    Da bog der junge Wind die alte Mauer etwas vor, daß ihre steifen Knochen knisterten und sie sah, wie zu ihren Füßen tief unten die Menschen vorbeihasteten, die undankbaren Menschen. Und sie bebte am ganzen Körper, die alte, verlassene Mauer, als sie die Menschen wiedersah und als sie den Wind fragte: Stürzen? Kann – ich – stürzen?
    Willst du? Dann kannst du – orakelte der weltweise Wind.
    Ich will es versuchen – seufzte die Mauer – ja!
    Dann stürze! Schrie der Wind und riß sie in seine jungen Arme und bog sie und drängte sich an sie und hob sie ein wenig und brach sie. Dann ließ er sie los, und sie stürzte.
    Weit neigte sie sich vor. Tief unter ihr wimmelten die undankbaren, vergeßlichen, treulosen Menschlein, denen sie ihr Leben lang eine treue Mauer gewesen war. Und als sie die kleinen Menschen so winzig und fleißig wimmeln sah,da vergaß sie ihren Haß und ihre Rache. Denn eigentlich liebte sie die Menschen, die wimmelnden, winzigen. Und da tat es ihr leid und sie wollte sich noch im letzten Augenblick wieder aufrichten.
    Aber da war der Wind auf der Hut. Und er gab der alten gebrechlichen Mauer einen Fußtritt, daß sie krachend und kreischend auf die Straße niedersauste.

    Sie erschlug eine ältere Frau und zwei Kinder und einen jungen Mann, der gerade aus dem Krieg

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