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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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Kindern und Broten. Mein Gott, wer garantiert mir, ob Sie das auseinanderhalten. Wer weiß, ob Sie nicht auch mit Munition rechnen. Pro Kopf dreißig Schuß. So war das doch immer im Krieg: Pro Kopf dreißig Schuß. Na, und jetzt sind es Brote, mein Gott, jetzt sind es zufällig Brote. Und er sagte betrübt: Gute Nacht, Sie sind mir einfach zu materialistisch, mehr ist es nicht, einfach zu materialistisch. Gute Nacht.
    Da rief ihm der Brothändler nach: Haben Sie schon mal Hunger gehabt, werter Herr? Ohne mein Brot könnten Sie Ihre Bücher gar nicht lesen, das will ich Ihnen nur stecken, ohne Brot nicht, werter Herr! Und ohne Munition gehts auch nicht, wie, ohne Muni gehts auch nicht, werter Herr! Und er sah den Soldaten dabei an. Und der schoß nun auch noch auf den Buchmann und beugte sich vor, um zu sehn, wie er traf. Wie Nero, dachte der Buchbesitzer und starrte ihn an, ganz wie Nero. Und der Soldat Nero fuhr ihn an: Warn Sie überhaupt im Krieg, Sie? Warn Sie denn schon mal im Krieg? Wenn Sie erst mal inn Krieg kommen, dannwollen Sie nachher auch weiter nichts, als aufm Balkon sitzen und Kaffee trinken. Weiter wollen Sie dann nichts, das sag ich Ihnen, mein Lieber.
    Der Buchbesitzer sah die beiden an und klopfte sich mit seinem Buch betrübt auf die Lippen. Dann trank er im Stehen die Tasse leer. Und die andern zwei tranken auch. Undefinierbar, sagte der Brothändler und schüttelte sich. Wie das Leben, antwortete der Mann mit dem Buch und verbeugte sich freundlich zu ihm. Und der Brothändler verbeugte sich freundlich zurück. Und sie lächelten höflich über ihren Streit rüber. Und jeder war ein Mann von Welt. Und der Buchmann war heimlich für sich der Sieger. Und darüber wollte er lächeln.
    Aber da riß er den Mund auf zu einem furchtbaren Schrei. Aber er schrie ihn nicht. Der Schrei war so furchtbar, daß er ihn nicht fertigbrachte. Er blieb ganz tief in dem Buchmann stecken. Nur der Mund stand weit auf, weil ihm die Luft ausging. Der Buchbesitzer starrte auf den vierten Stuhl, wo das Mädchen gesessen hatte. Der Stuhl war leer. Das Mädchen war weg. Da sahen die drei Männer auf dem Tisch ein kleines Glasröhrchen. Es war leer. Und das Mädchen war weg. Und die Tasse, die Tasse war leer. Und das Mädchen war weg. Der Stuhl. Und das Glasröhrchen. Und die Tasse. Leer. Ganz leise, unauffällig leer geworden.
    Ob sie Hunger hatte? fragte der Brotmann die andern dann endlich. Sie war verrückt, sagte der Soldat fröhlich, sie war verrückt, sag ich doch immer. Kommen Sie, sagte er zu dem mit dem Buch, setzen Sie sich wieder hin. Sie war bestimmt verrückt. Der Buchbesitzer setzte sich langsam und meinte: Vielleicht war sie einsam? Sie war sicher zu einsam? Einsam, schimpfte der Brothändler los, wieso denn einsam? Wir warn doch hier. Wir warn doch die ganze Zeit hier. Wir? fragte der Buchmann und sah in die leere Tasse. Ausder Tasse sah ihm ein Mädchen entgegen. Aber er konnte sie schon nicht mehr erkennen.
    Nachtdunst schwamm durch den Bahnhof, Nachtdunst aus Nebel und Not und Atem. Und der war dick wie der undefinierbare Kaffee. Und naßkalt. Wie Angstschweiß. Der mit dem Buch machte die Augen zu. Der Kaffee ist grauslich, hörte er den Brothändler sagen. Ja, ja, nickte er langsam, da haben Sie recht: Ganz grauslich. Grauslich hin, grauslich her, sagte der Soldat, wie haben doch nichts anderes. Hauptsache, er ist heiß.
    Er ließ das Glasröhrchen über den Tisch rollen. Es fiel runter. Und war kaputt. (Und Gott? Er hörte das kleine häßliche Geräusch nicht. Ob ein Glasröhrchen zersprang – oder ein Herz: Gott hörte von all dem nichts. Er hatte ja keine Ohren. Das war es. Er hatte ja keine Ohren.)

Die Küchenuhr
    Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, daß er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.
    Das war unsere Küchenuhr, sagte er und sah sie alle der Reihe nach an, die auf der Bank in der Sonne saßen. Ja, ich habe sie noch gefunden. Sie ist übriggeblieben.
    Er hielt eine runde tellerweiße Küchenuhr vor sich hin und tupfte mit dem Finger die blaugemalten Zahlen ab.
    Sie hat weiter keinen Wert, meinte er entschuldigend, das weiß ich auch. Und sie ist auch nicht so besonders schön. Sie ist nur wie ein Teller, so mit weißem Lack. Aber die blauen Zahlen sehen doch ganz hübsch aus, finde ich. Die Zeiger

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