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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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Sie saßen da. Es regnete, es regnete nicht, es regnete. Sie saßen und hielten Parade ab. Und weil sie einen Krieg lang nur Männer gesehen hatten, sahen sie jetzt nur Mädchen.
    Eine ging vorbei.
    Hat einen ganz schönen Balkon. Kann man auf Kaffee trinken, sagte Timm.
    Und wenn sie so lange in der Sonne rumläuft, wird die Milch sauer, grinste der andere.
    Dann kam noch eine.
    Steinzeit, resignierte der neben Timm.
    Alles voll Spinngewebe, sagte der.
    Dann kamen Männer. Die kamen ohne Kommentar davon. Schlosserlehrlinge, Büroangestellte mit weißer Haut, Volksschullehrer mit genialen Gesichtern und schäbigen Hosen, dicke Männer mit dicken Beinen, Asthmatiker und Straßenbahner mit Feldwebelschritt.
    Und dann kam sie. Sie war ganz anders. Man hatte das Gefühl, sie müsse nach Pfirsich riechen. Oder nach ganz sauberer Haut. Sicher hatte sie auch einen ganz besonderen Namen: Evelyne – oder so. Dann war sie vorbei. Die beiden sahen hinterher.
    Vielleicht hat sie ein rosa Hemd, meinte Timm dann.
    Warum, sagte der andere.
    Doch, antwortete Timm, die so sind, die haben meistens ein rosa Hemd.
    Blöde, sagte der andere, sie kann ebensogut ein blaues haben.
    Kann sie eben nicht, du, kann sie eben nicht. Solche diehaben rosane. Das weiß ich ganz genau, mein Lieber. Timm wurde ganz laut, als er das sagte.
    Da sagte der neben ihm: Du kennst wohl eine?
    Timm sagte nichts. Sie saßen da und das Brückengeländer war eisig durch die dünnen Hosen. Da sagte Timm:
    Nein, ich nicht. Aber ich kannte mal einen, der hatte eine mitn rosa Hemd. Beim Kommiß. In Rußland. In seiner Brieftasche hatte er immer son Stück rosa Zeug. Aber das ließ er nie sehen. Aber einen Tag fiel es auf die Erde. Da haben es alle gesehen. Aber gesagt hat er nichts. Nur angelaufen ist er. Wie das Stück Zeug. Ganz rosa. Abends hat er mir dann erzählt, das hätte er von seiner Braut. Als Talisman, weißt du. Sie hat nämlich lauter rosa Hemden, hat er gesagt. Und davon ist es.
    Timm hörte auf.
    Na und? fragte der andere.
    Da sagte Timm ganz leise: Ich hab es ihm weggenommen. Und dann hab ich es hochgehalten. Und wir haben alle gelacht. Mindestens eine halbe Stunde haben wir gelacht. Und was die für Dinger gesagt haben, kannst du dir denken.
    Und da? fragte der neben Timm.
    Timm sah auf seine Knie. Er hat es weggeworfen, sagte er. Und dann sah Timm den andern an: Ja, sagte er, er hat es weggeworfen, und dann hat es ihn erwischt. Am nächsten Tag hat es ihn schon erwischt.
    Sie sagten beide nichts. Saßen da so und sagten nichts. Aber dann sagte der andere: Blödsinn. Und er sagte es noch einmal. Blödsinn, sagte er.
    Ja, ich weiß, sagte Timm. Natürlich ist es Blödsinn. Das ist ja ganz klar. Das weiß ich auch. Und dann sagte er noch: Aber komisch ist es, weißt du, komisch ist es doch.
    Und Timm lachte. Sie lachten alle beide. Und Timm machte eine Faust in der Hosentasche. Dabei zerdrückteer etwas. Ein kleines Stück rosa Stoff. Viel rosa war da nicht mehr dran, denn er hatte es schon lange in der Tasche. Aber es war noch rosa. Er hatte es aus Rußland mitgebracht.

Unser kleiner Mozart
    Von morgens halb fünf bis nachts um halb eins. Die Stadtbahn fuhr alle drei Minuten. Jedesmal rief eine Frauenstimme durch den Lautsprecher auf den Bahnsteig: Lehrter Straße. Lehrter Straße. Das wehte rüber bis nach uns. Von morgens halb fünf bis nachts um halb eins. Achthundertmal: Lehrter Straße. Lehrter Straße.

    Am Fenster stand Liebig. Morgens schon. Mittags. Und nachmittags noch. Und die endlosen Abende. Lehrter Straße. Lehrter Straße.

    Sieben Monate stand er nun schon am Fenster und sah nach der Frau. Da drüben mußte sie irgendwo sein. Mit ganz netten Beinen vielleicht. Mit Busen. Und Locken. Vorstellen konnte man sie sich. Und auch sonst noch. Liebig sah stundenlang rüber, wo sie sang. Durch sein Gehirn ging ein Rosenkranz. Bei jeder Perle betete Liebig: Lehrter Straße. Lehrter Straße. Von morgens halb fünf bis nachts um halb eins. Morgens schon. Mittags. Und nachmittags noch. Und die endlosen Abende: Lehrter Straße. Lehrter Straße. Achthundertmal jeden Tag. Und Liebig stand nun schon sieben Monate am Fenster und sah nach der Frau. Denn man konnte sie sich vorstellen. Mit ganz netten Beinen vielleicht. Mit Knien. Busen. Und mit viel Haar. Lang, endlos lang wie die endlosen Abende. Liebig sah nach ihr hin. Oder sah er nach Breslau? Aber Breslau war ein paar hundert Kilometer weit weg. Liebig war aus Breslau. Ob er abends nach Breslau

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