Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
Vom Netzwerk:
sah? Oder betete er diese Frau an? Lehrter Straße. Lehrter Straße. Endloser Rosenkranz. Mit ganz netten Beinen. Lehrter Straße. Achthundertmal. Und mit Busen. Morgens schon. Und mit endlosem endlosem Abendhaar. Und dasging von der Lehrter Straße bis Breslau. Bis in den Traum rein. Bis Breslau. Bis Bres – – Breslauer Straße – – Breslauer Straße – – Alles aussteigen – – Aussteigen – – Alles aus – – Alles aus – – Alles – – Alles – – Bres – – lau –
    Aber Pauline saß krumm auf seinem Hocker und behauchte seine Fingernägel. Dann polierte er sie an der Hose. Das tat er immer. Monate schon. Und die Nägel waren schön rosig und blank. Pauline war homosexuell. Er war als Sanitäter an der Front gewesen. Er hatte sich an die Verwundeten rangemacht. Uns sagte er, er hätte ihnen bloß Pudding gekocht. Einfach bloß Pudding. Dafür hatte er dann zwei Jahre Zuchthaus gekriegt. Er hieß Paul. Für uns natürlich Pauline. Natürlich. Und allmählich protestierte er auch nicht mehr dagegen. Als er von der Verhandlung zurückkam, jammerte er: Mein scheenes Jespartes! Mein scheenes Jespartes. Das wär mir im Alter so prima zujute jekommen. So prima zujute. Aber dann vergaß er das alles. Er stellte sich um auf das Zuchthaus. Er wurde blöd. Und seitdem polierte er nur noch die Fingernägel. Das war das einzige, was er noch tat. Und von da ab ganz offen. Und nun schon monatelang. Und auch vielleicht noch weiter monatelang, bis im Zuchthaus ein Platz frei war. Eine Pritsche für Pauline. So lange polierte Pauline. Draußen, drüben hinter der Mauer, sang die Frau von der Stadtbahn das heroische Lied mit den achthundert Versen. Sang es von morgens halb fünf bis nachts um halb eins. Sang im Besitz von Locken und Busen. Sang in unsere Zelle hinein das idiotische Lied, das Mühle-Mahle-Alltagslied, das ewige Menschlied, das idiotische: Lehrter Straße, Lehrter Straße. Man konnte sie sich vorstellen. Die Singsangfrau. Vielleicht biß sie vor Tollheit beim Küssen. Vielleicht stöhnte sie tierhaft. (Vielleicht stammelte sie: Lehrter Straße, wenn ihr einer unter die Röcke ging?) Vielleicht riß sie die Augen groß und schwimmendauf, wenn man sie abends verführte. Vielleicht roch sie auch wie das nasse Gras morgens um vier: So kalt und so grün und so toll und so, ja, und so – – ach, das Weib sang achthundertmal jeden Tag: Lehrter Straße. Lehrter Straße. Und keiner kam und erwürgte sie. Keiner dachte an uns. Und keiner biß ihr die Kehle durch, diese verruchte. Aber nein, aber nie, denn sie sang, die Frau von der Stadtbahn, sang den sentimentalen Weltheimwehsong, dieses blödsinnige unaustilgbare Lied von der Lehrter Straße. Davon.
    Aber es gab auch schwindelfreie Tage. Fest- und Feier-, Sonntage einfach. Das waren die Montage. Denn montags durften wir uns rasieren. Das waren die männerbetonten Tage, die selbstbewußten, die erfrischenden. Einmal in der Woche durften wir das. Das war an den Montagen. Die Seife war schlecht und das Wasser war kalt und die Klingen waren jämmerlich stumpf. (Da kann man bis nach Breslau drauf reiten, fluchte Liebig. Er ritt immer nach Breslau. Auch auf der Frau von der Stadtbahn.) So stumpf waren die Klingen. Aber es waren Sonntage, diese Montage. Denn wir durften uns montags unter Aufsicht rasieren. Dann war unsere Zellentür auf und draußen saß Truttner mit der Uhr auf dem Schoß. Die Uhr war dick und laut und abgeschabt. Truttner war Unterfeldwebel, magenkrank, vierundfünfzig, Familienvater und Weltkriegsteilnehmer. Und grimmig. Seine Rolle in diesem Leben war grimmig. Mit seinen Kindern war er sicher nicht grimmig. Aber mit uns. Mit uns sogar sehr. Das war komisch. Und wenn wir uns montags rasierten, saß Truttner vor unserer Zelle mit der Uhr in der Hand und klappte mit seinen Absätzen (die waren benagelt, natürlich) einen preußischen Marsch. Davon schnitten wir uns dann. Denn er klopfte aus Ungeduld. Und weil er uns das Rasieren nicht gönnte. Denn frisch rasiert sein macht fröhlich. Das gönnte er uns nicht. Er war magenkrank. UndUnterfeldwebel in einem Gefängnis. Da war man nicht fröhlich. Deswegen ärgerte er sich, wenn wir uns rasierten. Und er sah dauernd auf seine widerlich laute Uhr. Und klappte die ungeduldigen Märsche dazu. Und obendrein hatte er noch die Pistolentasche offen. Er war Familienvater und hatte die Pistolentasche offen. Das war sehr komisch.
    Einen Spiegel hatten wir natürlich nicht. Mit Spiegeln konnte man sich

Weitere Kostenlose Bücher