Das Gesamtwerk
war. Der nur war. Und nicht mehr. Und das war zu viel. Und das war zu wenig. Und er hatte sie da hingehängt ins Leben, damit sie ein Weilchen da pendelten, dünnstimmige Glocken im unsichtbaren Gestühl, windgeblähte Vogelscheuchen. Preisgegeben sich und der Haut, von der sie die Naht nicht entdeckten. Hingehängt über Stühle, Stangen, Tische, Galgen und maßlose Abgründe. Und keiner vernahm ihr dünnstimmiges Geschrei. Denn der Gott hatte ja kein Gesicht. Darum konnte er auch keine Ohren haben. Das war ihre größte Verlassenheit, der Gott ohne Ohren. Gott ließ sie nur atmen. Grausam und grandios. Und sie atmeten. Wild, gierig, gefräßig. Aber einsam, dünnstimmig einsam. Denn ihr Geschrei, ihr furchtbaresGeschrei, drang nicht mal zum Nebenmann, der mit am Tisch saß. Nicht zu dem Gott ohne Ohren. Nicht mal zum Nebenmann, der mit am Tisch saß. An demselben Tisch saß. Nebenan. Am selben Tisch.
Vier saßen am Tisch und warteten auf den Zug. Sie konnten sich nicht erkennen. Nebel schwamm zwischen den weißen Gesichtern. Nebel aus Nachtdunst, Kaffeedampf und Zigarettenrauch. Der Kaffeedampf stank und die Zigaretten rochen süß. Der Nachtdunst war aus Not, Parfüm und dem Atem alter Männer gemacht. Und von Mädchen, die noch wuchsen. Der Nachtdunst war kalt und naß. Wie Angstschweiß. Drei Männer saßen am Tisch. Und das Mädchen. Vier Menschen. Das Mädchen sah in die Tasse. Der eine Mann schrieb auf graues Papier. Er hatte sehr kurze Finger. Der andere las in einem Buch. Der dritte sah die andern an. Von einem zum andern. Er hatte ein fröhliches Gesicht. Das Mädchen sah in die Tasse.
Da bekam der mit den sehr kurzen Fingern seine fünfte Tasse Kaffee. Ekelhaft, dieser Kaffee, sagte er und sah ganz kurz auf. Der Kaffee ist undefinierbar. Ein tolles Getränk. Und dann schrieb er schon wieder. Aber plötzlich fiel ihm was ein und er sah noch mal auf. Sie haben Ihren Kaffee ja kalt werden lassen, sagte er zu dem Mädchen. Kalt schmeckt er erst recht nicht. Tolles Getränk. Wenn er heiß ist, dann gehts grad. Aber undefinierbar. Un-de-fi-nier-bar! Das macht nichts, sagte das Mädchen zu dem mit den sehr kurzen Fingern. Da hörte der ganz auf zu schreiben. So hatte sie das gesagt: Das macht nichts. Er sah sie an. Ich will da nur meine Tabletten mit nehmen, mit dem Kaffee, sagte sie verlegen und sah in die Tasse, das macht nichts, daß er kalt ist. Haben Sie Kopfschmerzen? fragte er sie. Nein, sagte sie wieder verlegen und sah in die Tasse. Sah so lange in die Tasse, bis der Kurzfingrige mit dem Bleistift zu trommeln anfing. Dasah sie ihn an. Ich muß mir das Leben nehmen. Kopfschmerzen habe ich nicht. Ich muß mir das Leben nehmen. Und sie sagte das wie: Ich fahr mit dem Elf-Uhr-Zug: Ich muß mir das Leben nehmen, sagte sie. Und sah in die Tasse.
Da sahen die drei Männer sie an. Der mit dem Buch. Und der mit dem fröhlichen Gesicht. Herrlich, dachte der, eine Verrückte. Eine richtige Verrückte. Sie sind aber komisch, sagte der mit den sehr kurzen Fingern. Weil sie sich das Leben nehmen will? fragte der mit dem Buch und beugte sich interessiert über den Tisch. Nein, weil sie das einfach so sagt. Einfach so wie man Abfahrt oder Bahnhof sagt, antwortete der andere. Wieso, sagte der mit dem Buch, sie sagt doch nur, was sie denkt. Das ist doch nicht komisch. Das ist doch sehr schön sogar. Ich finde das sehr schön. Das Mädchen sah verlegen in die Tasse. Schön? empörte sich der mit den sehr kurzen Fingern und machte ein entrüstetes Fischmaul, schön, meinen Sie? Na, ich weiß nicht. Ich finde das! Sehen Sie mich an. Wenn ich nun einfach so sagen wollte, was ich denke. Wie? Was? Ich sollte heut nacht hier fünftausend Brote kriegen. Zweihundert sind nur gekommen. Macht Manko viertausend und acht mal einhundert. Und jetzt muß ich rechnen. Er machte sein Fischmaul und hob seinen Schreibblock hoch und warf ihn zurück auf den Tisch. Und wissen Sie, was ich jetzt denke? Das Mädchen sah in die Tasse. Der Fröhliche glotzte und grinste und schwieg. Und der mit dem Buch sagte: Na? Ich will es Ihnen sagen, mein Lieber, ich will es Ihnen sagen. Ich denke dabei, daß viertausendachthundert Familien morgen ihr Brot nicht bekommen. Morgen früh haben viertausendachthundert kein Brot. Morgen haben viertausendachthundert Kinder Hunger. Und die Väter. Und die Mütter natürlich. Aber die merken das nicht. Aber die Kinder, mein Guter, die viertausendachthundert Kinder. Die haben jetzt morgen kein Brot.Sehn Sie, das
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