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Das Gesamtwerk

Das Gesamtwerk

Titel: Das Gesamtwerk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Borchert
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sehn sie wie geleckt aus. Und das sind nicht nur die Soldaten, Helene. Alle sind es. Alle, Helene.
    Das wär was.
    Was sagst du?
    Wenn er wiederkommt – –
    Aber klar doch. Das gleicht sich alles wieder aus, Helene. Paß man auf. Das läuft sich alles wieder zurecht.
    Das wär was. O ja. Das wär was.
    Die Schwester von Herrn Lorenz sagt das noch mehreremal. Immer wieder: Das wär was. Dann klopft plötzlich was hölzernes.
    Ach, du bist es, Hermann.
    Ja, sie ist aus.
    Er steckt seine Pfeife in die Tasche.
    Ja, sagt er.
    Ja, gute Nacht, Hermann.
    Nacht, Helene, grüß die Kinder.
    Ja, Hermann.
    Komm bald mal wieder.
    Ja, Hermann.
    Oder schreib doch mal.
    Ja, Hermann.
    Sollst mal sehn, das gleicht sich alles wieder aus. Paß man auf.
    Da antwortet keiner mehr. Sie sieht sich noch um. Nur seine Messingknöpfe sind da. Sonst nichts. Wie Groschen, denkt sie. Dann sind die Groschen plötzlich weg.
    Herr Lorenz macht sein Fenster zu. Lauter Groschen, denkt er. Herr Lorenz meint die Sterne damit. Und dann schläft er bald. Seine Uniform hängt überm Stuhl. Sie ist bläulich. Beinah noch mehr violett. Solche haben sie bei der Straßenreinigung. Herr Lorenz hat sie schon siebenunddreißig Jahre. Und zwei Kriege.
    Draußen geht eine ältere Frau durch die Vorstadt. Das wär was, sagt sie manchmal. Dabei sieht man sie nicht. Die Nacht ist zu violett. Alles verschluckt sie. Und die ältere Frau trägt Schwarz. Aber manchmal sagt sie noch: Das wär was. Das wär was.
    In einem fremden Land gibt es ein Dorf. Es hat einen Acker. An einer Stelle ist die Erde etwas höher als anderswo. Ungefähr einen Meter achtzig lang und einen halben Meter breit. Aber die Schwester von Herrn Lorenz kennt das Land nicht. Das Dorf nicht. Den Acker nicht. Das ist gut.

Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck
    Toll sind die Märzmorgende am Strom, man liegt noch im Halbschlaf, gegen vier so, und die Schiffsungetüme blasen ihr vitales Saurier-Gestöhn unruhig über die Stadt hin, in den eisigrosigen Frühnebel, den sonnenüberhauchten Silberdampf des atmenden Flusses hinein, und in dem letzten Traum vor Tag, da träumt man dann nicht mehr von hellbeinigen schlafwarmen Mädchen, um vier so, im rosigen Frühnebel, im Geblase der Dampfer, in ihrem großmäuligen Uu-Gebrüll, am Strom morgens, da träumt man dann ganz andere Träume, nicht die von Schwarzbrot und Kaffee und kaltem Schmorbraten, nicht die von stammelnden strampelnden Mädchen, nein, dann träumt man die ganz anderen Träume, die ahnungsvollen, frühen, die letzten, die allgewaltigen, undeutbaren Träume, die träumt man an den tollen Märzmorgenden am Strom, früh, um vier so …
    Toll sind die Novembernächte in den vereinsamten mausgrauen Städten, wenn aus blauschwarzen Vorstadtfernen die Lokomotiven herüberschrein, angstvoll, hysterisch, kühn und abenteuerlich, in den ersten kaum begonnenen Schlaf hinein, Lokomotivenschrei, lang, sehnsüchtig, unfaßbar, davon zieht man die Decke noch höher und drängt sich noch dichter an das nächtliche, zaubrische, heiße Tier, das Evelyn oder Hilde heißt, das in solchen Nächten, voll November und Lokomotivenschrei, vor Lust und Leid seine Sprache verliert, Tier wird, traumschweres, zuckendes, unersättliches Novemberlokomotiventier, denn toll, ach toll sind im November die Nächte.
    Das sind die Märzmorgenschreie, die Saurierschreie der Schiffe im Strom, das sind die novemberträchtigen Lokomotivenschreie über silbrigem Geleise durch angstblaue Wälder – aber man kennt auch, man kennt auch die Klarinettenschreiean Septemberabenden, die aus schnaps- und parfumstinkenden Bars kommen, und die Aprilschreie der Katzen, die schaurigen, wollüstigen, und die Jubelschreie der sechzehnjährigen Mädchen, die über irgendein Brückengeländer rückwärts gebogen werden, bis ihnen die Augen übergehen, die lüstern erschrockenen, und die einsamen januareisigen Schreie der jungen Männer kennt man, Genieschreie über verdorbenen Dramen und verkommenen Blumengedichten:
    All dies Weltgeschrei, dies dunkelnächtige, von der Nacht benebelte, angeblaute, tintenfarbige, asternblütig blutige Geschrei, das kennt man, das erinnert man, das erträgt man wieder und wieder, und Jahr um Jahr, Tag um Tag, Nacht für Nacht.
    Aber der Kuckuck, im Mai der Kuckuck, wer unter uns erträgt in den schwülen Mainächten, an den Maimittagen sein tolles träge erregtes Geschrei? Wer von uns hat sich je an den Mai mit seinem Kuckuck gewöhnt, welches Mädchen, welcher Mann?

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