Das Geschenk
derSchwächere. Ein Mann ist ein unfertiges Kind, und jedes Kind weiß das und nutzt diesen Vorteil rücksichtslos aus. Chuck gab nicht nach. Mit zehn holte er zum ersten Mal tief Luft. Danach war ihm zwei Jahre lang schwindlig. Es war wie auf hoher See. Gegenwinde machen die Haut hart. Der Sturm tobt im Gegner. Das Kind, klein, biegsam, unbeugsam, die Himmelslinie im Blick. Er war nicht vom Obstbaum gefallen, er war nach Strich und Faden verdroschen worden. Viel hätte nicht gefehlt und der Hund wäre, seinem Herrchen treu, auch noch auf ihn losgegangen.
Was für ein Kind, sagten die Leute, wenn welche ins Haus kamen, und starrten ihn an. Von den Ehepaaren waren es die Frauen, die ihn gegen ihre Männer verteidigten; einige waren sogar regelrecht vernarrt in den süßen kleinen Knirps. Chuck war, wenn er sie noch auf einen Sprung begrüßen kam, oft schon im Schlafanzug, seine Zahnbürste in der Hand, der Gegenstand ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit und aller mütterlichen Liebe, besonders jener Frauen, die sie, weil sie selbst keine Kinder hatten, entbehren mußten. Er wurde regelrecht herumgereicht. Sie ließen ihn von den Schnittchen naschen, einen Teelöffel von der Bowle kosten, lachten über die Faxen, die er machte – und waren, wenn er sich an sie kuschelte, womöglich noch glücklicher als das glückliche Kind –, bis dann seine Mutter ein Machtwort sprach. Es war spät, er mußte früh raus. Ab mit ihm ins Bett! Man wußte, daß er kein einfaches Kind war. Welches Kind sagte schon Sachen wie: Morgen regnet es, ich freu mich schon. Aber andererseits? Ach Gott, wenn aus Kindern dann Männer werden! Schau dir unsere an! Und eineWeile war nichts zu hören als Gelächter und das scharfe Schlagen von Spielkarten.
Ein Kind macht sich auf, sein Leben zu beginnen, während der Vater, lächerlich wie ein Vater, verwundbar wie ein Vater, sich damit abzufinden hat, sein Leben als Anfänger zu beenden!
Chuck erinnerte sich an eine Zeit, als er, ein Junge mit roten Backen, sich in sein Zimmer eingeschlossen, eine Zigarette nach der anderen geraucht, heimlich natürlich, und sich mit Vorliebe selbst zum Inhalt der ersten Gedichte, die er schrieb, gemacht hatte. In einem standen die Zeilen:
Mit allem, was er war, hatte er erst angefangen,
mit allem, was es gab. Mädchen gab es und Frauen,
es gab sie, und es war Zeit, und es war ihm egal.
Und es ging ihm gut damit.
Egal? Nicht die Bohne egal waren sie ihm. Er war nur zu grüblerisch, zu eingebildet auch oder, wie er sich einredete, zu anspruchsvoll und blieb gern für sich, und sei es nur, um sich wichtig zu machen, was ihm zu schaffen machte und ihn wie im Fall jener Umkleidekabine, einer Art Bretterverschlag mit einem Guckloch, durch das man beobachten konnte, wie sich Frauen auszogen, fast verrückt werden ließ. Chucks Problem bestand – im Gegensatz zu allen anderen in seiner Clique – darin, daß er einfach nicht zugeben wollte, wie gerne auch er sich an dem Vergnügen seiner Mitschüler beteiligt hätte, einen kurzen verbotenen Blick durch das Loch tun zu können. Alles in ihm brannte darauf, einer Frau beim Ausziehen zuschauenzu können, aber niemand sollte es mitbekommen, niemand so etwas über ihn erzählen dürfen. Das war typisch Chuck, und er litt darunter. Er konnte sich nicht überwinden, ein Junge wie andere Jungs zu sein. Er glaubte es sich seiner Rolle als Außenseiter schuldig zu sein, sich zu beherrschen, sich keine Blöße zu geben, sich nicht einfach in die Schlange seiner Kameraden einzureihen, die sich schon während der Unterrichtsstunden einen Plan ausgedacht hatten. Er tat einfach so, als interessiere ihn das alles nicht. Es war mehr als albern, wie er sich aufführte. Es war lächerlich! Ein kleiner Junge, der keiner sein wollte, und sich gerade deshalb wie einer benahm. Der aber, die anderen hatten ihr Vergnügen gehabt und waren längst gegangen, immer noch den Bretterverschlag belagerte und sich, wenn die Luft rein war, gegen die Wand mit dem Guckloch preßte – und einmal prompt, weil er keinen dabeihatte, der für ihn Schmiere stand, erwischt wurde. Er konnte einem leid tun; der ganze kleine Kerl konnte einem leid tun! Er hatte den ganzen Sommer lang eine Frau sehen wollen, die sich auszieht – und hatte nur seine Kameraden beobachtet, wie sie einer Frau beim Ausziehen zuschauten. Den Rest des Sommers und dann bis in den Herbst hinein lief er allein herum. Irgendwie war ihm wohler, nirgendwo dazuzugehören, zu seiner
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