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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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Familie nicht, auch nicht zu seinen Altersgenossen. Er lag ganze Nachmittage lang im Gras, schaute in den Himmel und wußte nicht, ob er glücklich war oder Lust hatte zu weinen. In der Art, wie er das Leben ernstnahm, machte Chuck damals einen kümmerlichen Eindruck.
    Alles bei ihm hatte so etwas wie Methode. Auch dasGefühl, unglücklich sein zu wollen. Er war auf ruhige und beständige Art unglücklich, und ließ sich bei diesem Vergnügen nicht stören. Er saß in seiner Schulbank, ein wenig atemlos immer, und träumte davon, auf dem Heimweg von einer Frau entführt zu werden. Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Entführt und verführt werden, von einer unbekannten, sehr erwachsenen Frau! Noch heute, mit zweiundsechzig, war es nicht viel anders. Nur daß er sich für den Heimweg mehr Zeit ließe, und eine Entführung zu komisch wäre.
    Und daß es Zeit war? Es war, was das andere Geschlecht zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen anging, noch lange nicht Zeit, aber ja, es war gutgegangen! Ihm war mehr, fand er, als in seiner Macht stand, geglückt; sogar der eine oder andere frühe Vers, auch wenn er mehr vor Selbstbewußtsein strotzte als vor Talent.
     
    Er hatte Zeit. Er hatte Zeit, es sein zu lassen.
    Er hatte so viel Zeit wie Haare auf dem Kopf.
     
    Ach Gott ja, Haare! Er hatte kaum noch welche! Er hatte so wenige davon, und die wenigen waren so kläglich kraftlos, so fein und dünn und spröde, daß er sich kaum noch zum Friseur traute. Nach der Zeitrechnung seiner pubertären Poesie war die Zeit, seine Zeit, abgelaufen. Aber er hatte, alles in allem, ein Leben gehabt, wie er es sich in jenen frühen Jahren seiner Kindheit gewünscht hatte, ein überschaubar gutes, beneidenswert unkompliziertes, wenn auch, wofür diese Geschichte hier das Beispiel liefern könnte, rücksichtslos eigensinniges Leben, ein freies, freizügiges, improvisiertes und, er selbst nanntees ja so, immer auch ein wenig liederliches Existieren, vorzugsweise unterwegs, allein oder, wenn es sich ergab, in interessanter, nicht unbedingt immer weiblicher Gesellschaft.
    Aber die ganze Wahrheit war das nicht, nicht mehr.
     
    Vielleicht wird ihm sein Sohn eines Tages Vorwürfe machen. Er sagte es trotzdem. Ich weiß, daß du viel allein bist, und es nicht gut ist, zuviel allein zu sein, besonders nicht in deinem Alter. Das ist die schlechte Nachricht. Aber es hat, glaub mir, auch Vorteile. Vielleicht geht's uns allen besser, mal davon zu reden, von den Vorteilen.
    Sein Sohn hielt es für überflüssig, darüber zu reden. Er hielt auch nichts davon, überhaupt den Mund aufmachen zu müssen.
    Ich war gern allein. Ich war so einer. Ich war eigentlich immer nur, wenn ich allein war, guter Laune.
    Der Sohn hätte sich fast verraten – und laut gelacht, war er doch, weil er bei seinem Vater und also nicht allein war, auch nicht gerade bester Laune. Er dachte an die Sache mit dem Geld. Was er mit einer Million, wenn er sie hätte, machen würde? Genau das. Den Mund halten, das Fenster aufmachen und hinausfliegen.
    Alleinsein, das ist etwas, was man können muß, davon war Chuck überzeugt. Einer in seinem Beruf war auf die Fähigkeit angewiesen, es zu können! Keiner wird Schriftsteller, der dazu nicht den Mumm aufbringt. Es war der einzige absolute Wert, an den zu glauben sich Chuck erzogen hatte. Wer nicht leben kann, ohne daß neben ihm eine Frau geht oder liegt, wird scheitern. Es war nicht das erste Mal, daß Chuck – wie so manchen seiner in ehelicherGemeinschaft lebenden Gesprächspartnern, die er damit provozierte – seinen Sohn damit langweilte, indem er über die sprach, die sich, wenn sie allein sind, einsam fühlen, die heiraten, weil sie nicht allein sein können, und die dann in ihren Ehen unglücklich und damit noch einsamer sind. Sie wissen es – und heiraten. Auch daß sie unglücklich sind, wissen sie, und daß sie krank werden davon. Aber sie heiraten.
    Der Sohn saß da, sagte nichts, dachte nichts, reagierte nicht.
    Alleinsein, sagte Chuck, das ist das eine, was man können muß, abgesehen von ein paar anderen Kleinigkeiten natürlich. Allein einen Ersatzreifen montieren, zum Beispiel, wenn nicht gleich einen Motor auseinandernehmen und, was auch nicht schaden kann, wieder zusammensetzen können. Ein Instrument spielen! Mundharmonika, was praktisch sei, weil man sie in die Tasche stecken könne, oder Klavier! Irgendwo steht immer ein Klavier. Und höflich sein, auch wenn es gefährlich wird. Wenn es, was immer vorkommen

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