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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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für die er sich bis zuletzt interessiert hatte, mehr als für seine immer besorgniserregenderen Blutwerte oder das Fieber, dessen Ursache sich keiner der Ärzte erklären konnte, mehr sogar als seine Hütte im Schwarzwald, in die er sich, wenn er allein sein wollte, in seinen letzten Lebensjahren immer häufiger zurückgezogen hatte; er hatte, obwohl kaum genug Platz war, sogar eigens noch sein Klavier dorthin transportieren lassen, um mit dem Enthusiasmus eines leidenschaftlichen Laien in die Tasten hauen zu können, ohne daß, wie er sich ausdrückte, »immer irgendwer durchs Zimmer läuft, wenn ich meine Ruhe haben will«. Er hatte in dem Koffer, den er durch den Wald zu seinem Versteck schleppte, mehr Noten als Wäsche zum Wechseln. Und seinen Beethoven spielte er, als wollte er gegen die Taubheit des Komponisten ankämpfen. Was er tat, mußte weh tun. Es war, was herauskam, weniger Musik als Befehle an die Noten, seinem Widerwillen gegen die Welt zu gehorchen. So ist er, so war er immer, so wird er sterben, wie seine Mutter erklärte. Ein alter Mann, ein Einsiedler. Als es dann tatsächlich mit ihm zu Ende ging, kam auch Chuck noch einmal angereist, um Abschied zu nehmen. Der Vaterlag da, unbeweglich bis auf die Augen, musterte seinen Besuch und fragte: Wer hat dich hergeschickt? An einer Antwort schien er nicht interessiert, nicht einmal an einem Gespräch. Vielleicht waren es die Medikamente, das Morphium, die Mühe, die es kostete, es hinter sich zu bringen. Er machte nur noch einmal den Mund auf. Solange mein Knie weh tut, sagte er, sterbe ich nicht. Der letzte kostbare Schmerz. Die letzten, die allerletzten Reserven. Oder wie es der Stationsarzt, mit dem Chuck nachher auf dem Flur zusammentraf, sagte: Nicht jeder, der stirbt, schrumpft. Seien Sie stolz auf Ihren Vater! Er jedenfalls sei es, er war mit seinem Patienten zufrieden. Er habe sich im Griff, sei reinlich, und hin und wieder sage er schöne, ernste Sätze. Ich bin stark, durch mich wachsen Bäume! Erschütternd! Was für ein Anblick, diesen Mann da liegen zu sehen und zu wissen, eigentlich nichts mehr für ihn tun zu können. Oder erst vorgestern, als er mich rufen ließ, um mir mitzuteilen, daß er eine Wanderung plane, durch die Erde hindurch. Wir haben hier Patienten, die mich gebeten hätten, mitkommen zu dürfen. Er gab Chuck die Hand, drehte sich aber im Weggehen noch einmal um. Aber daß New York die Hauptstadt von Hongkong sei, das werde ich ihrem Vater in der ihm verbleibenden Lebenszeit wohl nicht mehr ausreden können.
    Ein Mensch in einer Rakete – und er auf dem Totenbett! Er hatte noch, Monate bevor er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, bis spät in die Nacht vor dem Fernseher gesessen und zugeschaut, wie nach einem Affen und einem Hund der erste Mensch die Erde umkreist hatte. Das war es, was ihn beschäftigte! Wann würden Menschenauf dem Mond landen? Würden Häuser gebaut werden, kleine Siedlungen, asphaltierte Straßen womöglich, all das Zeug? Chuck hatte keine Ahnung, wie er es seinem Vater würde recht machen können. Es war mit einem toten Vater zu reden nicht leichter als mit dem lebendigen. Und der Mond, wenn man ihn von der Erde aus betrachtete, war immer noch der Mond wie immer. Er würde ihm, bevor er den Stuhl nehmen und weggehen würde, versichern, daß er sich keine Sorgen um ihn zu machen brauche – und Mutter, die neben ihm lag und auch tot war, auch nicht; vielleicht hörte sie ja ohnehin zu. Er habe, würde er ihr sagen, ein Alter erreicht, wo man all das gerne ißt, was man als Kind auf den Tod nicht runterkriegte, auch unter Schlägen nicht. Er würde sie, weil ihm nicht wirklich etwas Vernünftigeres einfiel, an den Geruch erinnern, der die Wohnung durchweht hatte, den Geruch von Blumenkohl, von billigem Kaffee und dem Mottenpulver in den Vorhängen in allen Zimmern, in Vaters Hüten und Anzügen, in ihren Pelzen, und wie am Ende sogar der Sonntagsbraten und die Obsttorte danach geschmeckt hätten. Er würde mit der Hand den Grabstein berühren, würde die Hand eine Weile auf dem Stein ruhen lassen und die Wärme des Steins spüren und spüren, wie sie in ihn überging – eine Zärtlichkeit, die es zwischen ihnen niemals gegeben hatte.
    Die Arena war das Wohnzimmer gewesen. Tür und Fenster zu, Zutritt verboten, die Strafe, die Abrechnung, die blauen Striemen auf der Haut. In Chucks Augen ein Duell Mann gegen Mann, mit dem Vorteil, daß Chuck das Kind war. Heute begriff er das besser. Nun war er

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