Das Geschenk der Sterne
Fluch.«
Tschuang Tse seufzte. »Und nun haben die Menschen, um dem ganzen Unheil noch die Krone aufzusetzen, das Geld erfunden, mit dem sie das vollkommene Ziel ihrer Besitzgier geschaffen haben, das alle natürlichen Grenzen außer Kraft setzt. Was konnte ein besitzgieriger Mensch sich anschaffen, bevor es das Geld gab? Grundstücke, Häuser, Möbel, Geräte des täglichen Gebrauchs, Pferde und andere Nutztiere. Doch wenn einer zehn Grundstücke und zehn Häuser mit Hunderten von Möbeln und Dingen des täglichen Gebrauchs besitzt, wenn er hinter jedem Haus ein Pferd und andere Nutztiere hat, wird er seines Lebens nicht mehr froh, denn sein Besitz ist eine Last. Seine Grundstücke und Häuser wollen
gepflegt und bewohnt werden, die Möbel und Dinge des täglichen Gebrauchs wollen benutzt werden, die Pferde und die anderen Nutztiere wollen gefüttert und getränkt werden. So wird er tagaus, tagein von einem seiner Häuser zum nächsten eilen, um seine Besitztümer zu pflegen und zu unterhalten. Wenn er nicht völlig der Verwirrung anheimgefallen ist, wird er bald erkennen, daß er zum Sklaven seines Besitzes geworden ist und mehr Freude an seinem Leben hätte, wenn er nur ein Grundstück, ein Haus und ein Pferd besäße. Das Geld hingegen bedarf keiner Pflege, und die Menschen können so viel davon ansammeln, wie es ihnen möglich ist, ohne ihren Geldbesitz als Belastung zu empfinden. Dadurch hat ihre Besitzgier ihre natürliche Beschränkung verloren, und so ist die Redensart entstanden, daß man nie genug Geld haben könne. Alle reden davon, wie herrlich und nützlich doch das Geld sei. Ich meine, daß die Erfindung des Geldes alle anderen menschlichen Erfindungen an Schrecklichkeit und Schädlichkeit bei weitem übertrifft, denn das Geld hat der Besitzgier eine Maßlosigkeit verschafft, die unsäglich großes Leid und Elend in die Welt bringen wird.«
DAS GESCHENK DER STERNE
»Wann hast du zum ersten Mal vom Tao erfahren?« fragte Yu Lin unvermittelt.
»Das Wissen um das Tao ruhte schon vor der Geburt meines Körpers in meiner Seele, wie das Wissen um das Fliegen in der Seele eines Vogels liegt, während er noch im Ei heranwächst. Bereits als Kind suchte ich nach dem Tao, ohne indes zu wissen, was ich suchte. Das Leben der Erwachsenen erschien mir mangelhaft, ihm fehlte etwas, ein höherer Sinn, eine tiefere Freude. Alle Menschen in meinem Heimatdorf waren von früh bis spät mit ihren Arbeiten und Vergnügungen beschäftigt und wirkten im großen und ganzen zufrieden damit, doch ihre Arbeiten erschienen mir als eintönig und ermüdend und ihre Vergnügungen als hohl und niedrig. Eine innere Stimme sagte mir, daß es etwas im Leben gab, das voller Sinn
und Schönheit war, und manchmal hatte ich das Gefühl, diesem gewissen Etwas nahe zu kommen, seinen verborgenen Sinn zu erahnen, seine unsichtbare Schönheit zu erkennen. Doch immer wenn ich die Hand ausstreckte, um es zu berühren, entzog es sich mir. Ich ließ mich dadurch aber nicht entmutigen.«
»Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«
Tschuang Tse lachte. »Ja, Min Teng, ich habe es einmal versucht, als ich zehn oder elf war, aber sie schauten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Dabei versuchte ich nur unwillkürlich, über meinen Verstand hinauszugehen. Es sei Träumerei und Zeitvergeudung, nach etwas Unsichtbarem zu suchen, tadelte mein Vater mich. Und meine Mutter stimmte ihm zu. Danach sprach ich mit niemandem mehr über meine Sehnsucht nach dem wahren Leben, das sich hinter dem scheinbaren verbarg, welches die Menschen im Dorf als das einzige betrachteten. Die Jahre vergingen, ich wuchs zu einem Mann heran, und mit meinem Körper wuchs meine Sehnsucht nach der Entdeckung des Tao, das ich damals noch nicht so nannte. Ich hatte keinen Namen dafür, ich ahnte nur, daß es alle Vorstellungen überstieg, die ich mir von ihm machen konnte, und daß es mir grenzenlose Erfüllung und Freiheit schenken würde: dieses verheißungsvolle Unbekannte, das mich manchmal anstrahlte, wenn meine Augen dem Flug eines Schmetterlings oder dem langsamen Zug der weißen Wolken am Himmel folgten, wenn ich dem Rauschen des Windes in den Baumkronen lauschte oder den anmutigen Tanz der
Blumen im Sommerwind betrachtete. Meine Sehnsucht, es zu finden, reifte mit der Einsicht, daß ich es nicht suchen konnte, weil es überall war, auch in der Tiefe meiner eigenen Seele.«
»Wenn es überall war, hättest du es überall suchen können«, wandte Min Teng
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