Das Geschenk der Sterne
bürden mir eine Verantwortung auf, mit der ich nicht umzugehen weiß. Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, daß ich den Fischer und den Zimmermann nicht gewarnt habe. Vielleicht hätte ich ihn und die Fischerstochter vor dem Tod bewahren können.«
»Vielleicht auch nicht«, entgegnete Tschuang Tse. »Was hättest du dem Zimmermann sagen sollen? Daß er nicht mehr arbeiten soll, weil er bei der Arbeit sterben wird? Was hättest du dem Fischer sagen sollen? Daß er seiner Tochter auf Schritt und Tritt folgen oder sie in seinem Haus einsperren soll, weil sie in einem Wald umgebracht wird?«
»Ich habe den Jungen gewarnt! Ich habe ihn gebeten, nicht mehr in dem Fluß zu schwimmen. Er fragte mich, warum er auf eine seiner größten Freuden verzichten sollte, und ich erzählte ihm, was ich in meinem Traum gesehen hatte. Der Junge lachte mich aus und sagte, ich sei verrückt. Ein paar Tage, nachdem er vor dem Ertrinken gerettet wurde, lief ich ihm zufällig über den Weg. Er starrte mich erschreckt an und rannte dann schnell davon.«
»Wie oft hast du diese Träume?« fragte Min Teng.
»Sie kommen, wann sie wollen. Manchmal zweimal in der Woche, und dann habe ich wieder wochenlang Ruhe vor ihnen. Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum, der
mich vor eine sehr wichtige Frage gestellt hat, auf die ich noch keine Antwort weiß. In diesem Traum habe ich gesehen, daß der erste Mann, den ich lieben werde, aufgrund seiner Liebe zu mir auf gewaltsame Weise sterben wird. Leider konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Alles, was ich in diesem Traum sah, war wie in dichten Nebel gehüllt. Ich weiß nur, daß ich in der Nähe meines Geliebten war, ihm aber nicht helfen konnte. Er wurde getötet, und ich wußte, daß er starb, weil er mich liebte.«
»Mehr konntest du nicht erkennen?« fragte Tschuang Tse.
Yu Lin schüttelte den Kopf. »Als ich erwachte, weinte ich, zitterte am ganzen Leib und fror, wie ich noch nie in meinem Leben gefroren habe. Das Blut in meinen Adern erschien mir kalt wie Brunnenwasser. Es war der erste Wahrtraum, der mir selbst galt. Die Warnung, die von ihm ausging, hätte kaum grausamer sein können. Sie bedeutet, daß ich in meinem Leben keinen Mann lieben darf, weil meine Liebe seinen Tod bewirken wird. Dabei trage ich schon seit Jahren eine starke Sehnsucht nach Liebe in meiner Seele. Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche, als den Zauber und die Schönheit einer großen Liebe zu erleben. Es fällt mir unsagbar schwer, mich von dieser Sehnsucht zu trennen. Aber ich werde es wohl müssen!«
»Warum?« fragte Tschuang Tse. »Eben haben wir festgestellt, daß deine Wahrträume nicht mit Sicherheit, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden. So könnte es auch mit diesem
Traum sein. Es ist also durchaus möglich, daß der erste Mann, den du liebst, nicht wegen deiner Liebe sterben muß – wie der Junge, den du ertrinken sahst, nicht ertrunken ist.«
»Ja, es ist möglich, aber wie kann ich das Wagnis eingehen, der Grund für den Tod des ersten Mannes zu sein, dem ich mein Herz öffne? Würde er sterben, müßte ich die Last meiner Schuld bis ans Ende meines Lebens tragen und könnte sicherlich nie wieder einen anderen Mann lieben. Es erscheint mir als das geringere Übel, mir gänzlich das Lieben zu verbieten.«
»Und wenn nun das scheinbar geringere Übel das eigentlich größere ist?« wandte Tschuang Tse ein.
»Würdest du eine unsichere Brücke betreten, die über einen Abgrund führt, wenn du wüßtest, daß sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit unter deinem Gewicht nachgeben und dich mit ihr in die Tiefe reißen wird?« entgegnete Yu Lin.
»Das hängt ganz davon ab, was auf der anderen Seite des Abgrunds liegt. Wenn dort meine Bestimmung auf mich wartete, würde ich den Gang über die Brücke wagen. Deine starke Sehnsucht nach Liebe deutet darauf hin, daß es dir bestimmt ist, die Liebe zu entdecken. Wenn es so ist, solltest du über die Brücke gehen, so gefährlich dieser Gang auch sein mag. Seiner Bestimmung nicht zu folgen, ist immer das größere Übel.«
»Und wenn ich mit der Brücke in den Abgrund stürze?«
»Und wenn die Brücke dich trägt? Du machst auf
mich den Eindruck eines tapferen, hoffnungsvollen Mädchens, aber hier scheint es dir an Mut und Zuversicht zu mangeln.«
Yu Lin senkte den Kopf: »Meine Hoffnung kämpft gegen meine Angst, seit ich diesen Traum hatte. Die Angst scheint stärker als die Hoffnung zu sein, aber der Kampf ist
Weitere Kostenlose Bücher