Das Geschenk der Sterne
Boot hätte machen können. Sie galt als eine Sehenswürdigkeit. Ein Zimmermann kam mit seinem Gesellen an dieser Eiche vorbei, aber sah sich den Baum nicht näher an, sondern ging gleichgültig an ihm vorüber, im Gegensatz zu seinem Gesellen, der staunend seine außerordentliche Größe bewunderte und sich an ihm nicht satt sehen konnte. Er lief seinem Meister hinterher und sagte: ›Seit ich die Axt in die Hand nahm, um von dir zu lernen, habe ich nicht einen so gewaltigen Baum gesehen. Du aber hast ihn kaum eines Blickes gewürdigt. Sag mir, warum!‹
Der Meister erwiderte: ›Weil es ein nutzloser Baum ist. Er hat mangelhaftes Holz. Mache eine Dschunke daraus, und sie wird untergehen. Mache Särge daraus, und sie werden schnell verfaulen. Mache Geräte daraus, und sie werden bald zerbrechen. Mache Türen daraus,
und sie werden Harz ausschwitzen. Mache Pfeiler daraus, und sie werden wurmstichig. Aus diesem Baum läßt sich überhaupt nichts machen, er ist zu nichts zu gebrauchen. ‹
In der folgenden Nacht erschien die alte Eiche dem Zimmermann im Traum und sprach zu ihm: ›Was weißt du mangelhafter Mensch schon über einen mangelhaften Baum? Du kennst doch das Schicksal der Bäume mit feingemasertem Holz, die du so gerne fällst! Oder das der Bäume, die Früchte tragen wie Weißdorn, Birnen oder Orangen! Kaum erlangen ihre Früchte die Reife, so mißhandelt und schändet man sie schon. Die Früchte werden abgerissen, die Äste werden abgebrochen, die Zweige beschnitten. So ziehen diese Bäume durch ihre großzügigen Gaben nur Schaden auf sich und können die ihnen zugemessene Lebensspanne nicht vollenden, sondern gehen schon auf halbem Weg zugrunde. So geht es überall auf der Welt zu, so ist es mit allen Dingen. Deshalb habe ich mir schon immer Mühe gegeben, völlig nutzlos zu werden. Wie du gesehen hast, ist meine Nutzlosigkeit mir von größtem Nutzen. Wäre ich zu irgend etwas zu gebrauchen gewesen, hätte ich dann wohl meine Größe und mein Alter erreicht?‹
Vielleicht hat der Zimmermann etwas aus seinem Traum gelernt«, beendete Tschuang Tse seine Geschichte.
»Dann ist der Weise also nutzlos für weisheitssuchende Menschen?« fragte Min Teng.
»Ja und nein. Sie können seine Weisheit wohl bestaunen,
wie die Menschen die große Eiche bestaunt haben, aber sie können keinen unmittelbaren Nutzen aus seiner Weisheit ziehen. Deswegen wird der Weise oft geringgeschätzt, denn man kann ihn nicht ausnutzen; und ihn nur zu bewundern, wird mit der Zeit ermüdend. Weisheit kann man sich nicht von einem Weisen aneignen wie Wissen von einem Gelehrten, man muß sie in sich selbst entdecken und entfalten. Dabei kann der Weise allerdings hilfreich sein, aber nur dann, wenn der Weisheitssuchende bereit und fähig ist, sich helfen zu lassen, was er nicht immer ist.«
»Einerseits bemühst du dich darum, nutzlos zu sein«, sagte Min Teng. »Andererseits wirfst du manchmal die Saat des Tao aus, um anderen Menschen zu helfen. Ist das nicht ein Widerspruch?«
Tschuang Tse lachte schallend. »Das ist nicht mein einziger! Warum sollte ich mir nicht die Freiheit gönnen, hier und da widersprüchlich zu sein? Auch die weise alte Eiche war nicht ganz nutzlos, denn sie hat Jahr für Jahr neue Eicheln wachsen lassen, an denen die Eichelhäher ihre Freude hatten.«
WEISHEIT HAT KEIN GEHEIMNIS
Tschuang Tses Blick fiel auf die grasenden Pferde, die am Stamm des Ginkgos angebunden waren. »Pferde ähneln Menschen«, sagte er. »Von Natur aus sind sie frei, aber sie lassen sich zähmen. Und wenn sie einmal gezähmt sind, fragen sie sich nicht mehr, ob es richtig oder falsch ist, daß sie angebunden sind und Lasten auf ihren Rücken tragen. Sie gehorchen einfach ihren Besitzern und tun, was man ihnen befiehlt, ohne zu merken, daß sie ihre Freiheit, ihr natürliches Leben verloren haben. Die Könige und Fürsten haben versucht, eine aus der natürlichen Ordnung gefallene Menschenwelt künstlich und gewaltsam zu ordnen. Solche Versuche sind grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, von wem auch immer
sie unternommen werden. Alles, was damit erreicht werden kann, ist die Ersetzung einer heillosen Unordnung durch eine andere. Wenn das Tao einmal verloren ist, kann es nicht durch Gesetze, Verbote, Ermahnungen, Moral, Riten und dergleichen zurückgewonnen werden.«
»Wie kann das Tao denn zurückgewonnen werden?« fragte Yu Lin.
»Für die Menschheit ist es für immer verloren. Nur einzelne Menschen können es noch für sich
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