Das Geschenk der Sterne
ein.
Tschuang Tse schüttelte den Kopf. »Gerade weil es überall war, konnte ich es nirgendwo suchen. Wie soll der Vogel den Himmel suchen, in dem er fliegt? Er kann sich nur danach sehnen, eins mit dem Himmel zu werden. Schließlich wurde mir bewußt, daß nicht ich das Tao, sondern das Tao mich finden würde, wenn es so sein sollte und die Zeit dazu gekommen war.«
»Und wann hat das Tao dich gefunden?«
Tschuang Tse lächelte eine Weile, bevor er Yu Lin antwortete: »Wenige Tage nach meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag erwachte ich mitten in der Nacht aus einem heiteren Traum, fühlte mich beschwingt, hellwach und konnte keinen Schlaf mehr finden. Also stand ich auf, verließ das Haus auf leisen Sohlen, um niemanden zu wecken, und bestieg im Licht des Vollmonds einen Hügel am Rand der Stadt. Es war eine warme, windstille Nacht. Die Luft war so klar, daß die Sterne zum Greifen nah erschienen. Als ich die Kuppe des Hügels erreichte, schaute ich die Sterne lange in wachsender Selbstvergessenheit an. Und plötzlich hörte ich ihre Musik!«
»Die Sterne spielten Musik?«
»Ja, Yu Lin, eine ganz zarte, himmlisch schöne Musik, die ich nicht mit den Ohren, sondern mit meiner Seele
hörte. Einem unwiderstehlichen Antrieb folgend, begann ich zu tanzen. Während das ganze Dorf schlief, erwachte ich und wurde in meinem Tanz eins mit den Sternen und ihrer Musik. Meine Zehenspitzen berührten den Boden, meine Fingerspitzen den Himmel. In meinem Tanz vereinten sich Himmel und Erde. Das Tao öffnete sich mir, ließ mich in seine unsagbare Schönheit ein, und ich wurde zu einem Teil von ihm. Ich bekam es von den Sternen geschenkt. Nie wieder in meinem Leben erhielt ich ein so kostbares Geschenk. Ich ließ den Verstand hinter mir zurück und sah, daß nicht nur die Sterne und ich, sondern auch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander tanzten. In dieser Nacht begann mein wahres Leben. Vor dieser Nacht hatte ich nur mit unbeirrbarer Sehnsucht darauf gewartet, daß es beginnen würde.«
EINE UNSICHERE BRÜCKE ÜBER EINEM ABGRUND
Min Teng betrachtete Tschuang Tse wie gebannt und fragte sich erneut, wie ein Mann in diesem Alter so klare, strahlende Augen haben konnte, die man sonst nur bei Kindern sah, denen das Leben noch nicht jene bitteren Lektionen erteilt hatte, die den Blick stumpf und trüb machten. Vielleicht lag der Grund für Tschuang Tses leuchtende Augen in jener Nacht, von der er gerade erzählt hatte. Wenn das Tao die Quelle allen Lebens war, wirkte es auf den Menschen, der mit ihm vereint war, womöglich wie ein Jungbrunnen, aus dem er Frische, Heiterkeit und Glanz trinken konnte.
Yu Lin brach das Schweigen, das Tschuang Tses Worte bewirkt hatten: »Ich habe auch ein Geschenk erhalten, vor etwa drei Jahren, aber ich empfinde es nicht als kostbar. Kun Liang meint, es sei eine Gabe des Himmels,
aber mir erscheint es eher als eine Bürde. Hat er euch davon erzählt?«
»Ja, er hat darüber gesprochen«, antwortete Tschuang Tse. »Er hat uns vom Schicksal der Fischerstochter erzählt, deren gewaltsamen Tod du vorausgesehen hast. Haben sich danach noch weitere deiner Wahrträume bestätigt?«
»Nicht alle. Einmal träumte ich, daß unsere hochschwangere Nachbarin Zwillinge zur Welt bringen würde, und eine Woche später geschah es auch so. Ein anderes Mal träumte ich, daß ein Zimmermann in He Jing während seiner Arbeit plötzlich tot umfallen würde, und auch das geschah, etwa drei Wochen später. Ich träumte aber auch, daß ein Junge aus der Stadt beim Schwimmen im Fluß ertrinken würde; fast wäre er auch ein paar Tage darauf wirklich ertrunken, doch ein Schneider hörte seine Hilferufe und rettete ihn. Und einmal sah ich, wie die neue Brücke, die vor zwei Jahren über den Fluß gebaut wurde, lichterloh in Flammen stand und in sich zusammenstürzte. Doch heute morgen hat sie mein Pferd und mich gut getragen, als ich die Stadt verließ.«
»Vielleicht wird sie eines Tages noch in Flammen aufgehen«, erwog Min Teng. »Du könntest mit diesem Traum in eine Zeit gereist sein, die noch nicht gekommen ist.«
»Deine Wahrträume werden also nicht mit Sicherheit, sondern mit einer gewissen, nicht näher zu bestimmenden Wahrscheinlichkeit durch die Wirklichkeit bestätigt«, stellte Tschuang Tse fest.
Yu Lin nickte. »Diese Unsicherheit mindert leider nicht die Last meiner Gabe. Oft fürchte ich mich vor dem Einschlafen davor, in der Nacht einen Wahrtraum zu haben. Diese Reisen meiner Seele
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