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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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seiner Tasche. Ohne den Blick vom Haus abzuwenden, schaltete er es aus.
    «Meine Güte, wie Sie aussehen!», sagte Marchent. «Sie frieren ja! Wie gedankenlos von mir. Kommen Sie, wir gehen rein.»
    «Halb so schlimm», sagte Reuben. «In Russian Hill schlafe ich immer bei offenem Fenster. Ich bin solche Temperaturen gewohnt.»
    Er folgte ihr die Stufen hinauf und durch die massive, gewölbte Tür.
    Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen, obwohl sie in einer riesigen Diele mit hohen Deckenbalken standen, von der in lichter Höhe endlose holzgetäfelte Flure abgingen, die sich im Zwielicht verloren.
    An der gegenüberliegenden Wand loderte ein Feuer in einem höhlenartigen Kamin. Davor standen alte, unförmige Sofas und Sessel.
    Die brennenden Eichenscheite hatte Reuben schon auf der Wanderung gerochen. Der Geruch war ihm ab und zu angenehm in die Nase gestiegen.
    Marchent führte ihn zu dem Samtsofa, das dem Kamin am nächsten stand. Auf einem großen marmornen Couchtisch stand ein silbernes Kaffeeservice.
    «Wärmen Sie sich auf», sagte sie und stellte sich selbst mit ausgestreckten Händen ans Feuer.
    Die großen alten Kaminböcke waren aus Messing, das Kamingitter schmiedeeisern, die Kaminziegel schwarz.
    Marchent drehte sich um und ging fast lautlos über die alten, abgewetzten Orientteppiche und schaltete einige Lampen an, die überall im Raum verteilt waren. Nach und nach wurde es hell und freundlich.
    Die Sitzmöbel waren trotz ihrer enormen Ausmaße bequem und die zerschlissenen Schonbezüge praktisch. Hier und da standen karamellfarbene Lederstühle. Etliche altmodische Bronzestatuen stellten mythologische Figuren dar. An den Wänden hingen alte, nachgedunkelte Landschaftsgemälde in schweren Goldrahmen.
    Es wurde so warm, dass Reuben kurz davor war, Jacke und Schal abzulegen.
    Er blickte auf die alte, dunkle Holztäfelung über dem Kamin, die mit klassischen Schnitzereien verziert war, genau wie die der anderen Wände. Der Kamin war von Bücherschränken eingerahmt, in denen große alte Lederbände, Bücher mit Leinenrücken und sogar Taschenbücher standen. Hinter Reuben, an der Ostseite des Hauses, schloss sich eine schöne alte Bibliothek an, ebenfalls holzgetäfelt. Schon immer hatte er davon geträumt, einmal so eine Bibliothek zu besitzen. Auch dort schien ein Kaminfeuer zu brennen.
    «Das ist ja atemberaubend», sagte er. Er stellte sich vor, wie sein Vater dort säße, seine Gedichte durchsähe und sich endlose Notizen machte. Er würde diese Bibliothek lieben. Es war der ideale Ort, um über universelle Fragen nachzudenken.
    Seine Mutter würde sich hier allerdings nicht wohlfühlen. Aber warum eigentlich nicht? Seine Eltern liebten einander, waren aber grundverschieden. Phil versuchte, Grace’ Arztfreunde zu ertragen, und in ihren Augen waren seine wenigen Akademikerfreunde von früher schreckliche Langweiler. Gedichte verabscheute Grace aus grundsätzlichen Erwägungen, genau wie die Filme, die Phil mochte. Wenn er auf einer Dinnerparty seine Meinung über irgendetwas äußerte, wechselte sie das Thema, wandte sich ihrem Tischnachbarn zu, verließ den Raum, um noch eine Flasche Wein zu holen, oder begann zu husten.
    Sie tat das nicht, um ihn zu verletzen, denn so war sie nicht. Vielmehr stürzte sie sich voller Elan auf Dinge, die sie liebte, und sie vergötterte Reuben. Er war sich darüber bewusst, dass sie ihm mehr Selbstvertrauen gegeben hatte, als die meisten Menschen aus ihrem Elternhaus mitbekamen. Nur seinen Vater konnte sie manchmal schwer ertragen, was Reuben oft sogar verstehen konnte.
    In letzter Zeit war es jedoch immer schwieriger geworden, die Spannungen auszuhalten, weil seine Mutter nicht zu altern schien, vor Energie sprühte und ihren Beruf so engagiert wie eh und je ausübte, während sein Vater alt und verbraucht war. Celeste hatte sich schnell mit seiner Mutter angefreundet («Wir beide sind Powerfrauen!»), und gelegentlich traf sie sich mit ihr sogar zum Mittagessen, während sie seinen Vater, den «alten Mann», wie sie ihn nannte, ignorierte. Manchmal fragte sie Reuben warnend: «Willst du etwa wie er werden?»
    Was meinst du, Dad, würde es dir hier gefallen?
, dachte Reuben.
Wir könnten zwischen den Redwoodbäumen spazieren gehen und das verwahrloste Gästehaus instand setzen, für deine Dichterfreunde. Andererseits ist das Haus so groß, dass sie auch dort übernachten könnten. Sie könnten hier regelrechte Symposien abhalten, und Mom könnte herkommen, wann immer

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