Das geschenkte Gesicht
ersten Stockwerkes waren offen: es war ein schwüler, heißer Frühherbsttag, und ein Gewitter war fast körperlich spürbar.
Erich Schwabe starrte zu den Fenstern hinauf. Aus einem der Fenster hörte er eine Stimme. »Mami«, rief die Stimme. »Mami, ich habe Durst, Mami …«
Barbara.
Warum kam die Mutter der Kleinen denn nicht? Warum antwortete sie nicht? Warum ließ sie das kranke Kind so lange rufen? War sie einkaufen gegangen, und niemand war bei dem Kind geblieben?
»Barbara«, rief Schwabe laut. »Babs, ich bin da. Onkel Erich. Ich komme sofort und bring' dir was zu trinken.«
Er riß die Vorgartentür auf, rannte ins Haus. Unten an der Treppe blieb er stehen und sah zur oberen Diele hinauf, von der eine Anzahl Türen abging. »Babs«, rief er wieder. »Wo bist du?«
»Hier, Onkel Erich, hier!«
Schwabe rannte die Treppe hinauf, der kleinen Stimme nach und riß die Tür auf, hinter der er sie hörte. Ein großes Kinderzimmer tat sich vor ihm auf. Ringsum an den Wänden hingen alle seine auf Glas gemalten Märchenbilder, und inmitten dieser leuchtenden Farben lag in einem weißen Bett Barbara, mit fieberrotem Gesichtchen und mit Flecken übersät.
»Hier bin ich, Babs«, sagte Schwabe und packte sein Paket aus. Er goß von dem schwarzen Johannisbeersaft das Glas voll, das neben Barbara auf dem Nachttisch stand, und stützte ihren Kopf, während sie durstig trank und ihn aus ihren blauen Augen dankbar und voll Freude ansah. Dann legte er sie wieder in die Kissen zurück und zog die Decke über den fieberheißen Körper.
»Wo ist denn nur deine Mami?« fragte er. »Ist sie weggegangen?«
»Eben war sie noch da, Onkel.«
»Vielleicht hinten im Garten?«
»Ich weiß nicht.«
Schwabe streichelte über das rotgefleckte, heiße Gesichtchen. Er fühlte eine unendliche Zärtlichkeit. Hier bleibe ich sitzen, bis sie gesund ist, dachte er. Die Blumen, die Vögel, der Rasen, alles, alles kann warten. Ich muß hier sitzen und aufpassen, es gibt nichts Wichtigeres mehr.
»Ich bleibe jetzt hier«, sagte Schwabe. »Du wirst nie mehr allein sein, wenn die Mami einmal weggehen muß. Eigentlich müßte sie jetzt wiederkommen …«
»Warum?« fragte eine Stimme hinter ihm. »Nun ist ja der Papi endlich da.«
Erich Schwabe duckte sich wie unter einem betäubenden Schlag. Dann schnellte er hoch, stieß den Stuhl um und wirbelte zur Tür herum. Im Zimmer stand Ursula, schmal, blond, mit großen, traurigen, blauen Augen – so, wie sie immer war, von einer zerbrechlichen, hilfesuchenden und aufreizenden Schönheit.
»Was … was soll das?« sagte Schwabe tonlos. »Was machst du? Wie kommst du hierher? Wo ist Barbaras Mutter?«
»Guten Tag, Erich«, sagte Ursula kaum hörbar.
»Das ist er«, rief Barbara aus ihrem Bettchen. »Das ist Onkel Erich, Mami.«
Schwabe stand steif neben dem Bett. Sein Kehlkopf zuckte wild.
»Du bist …« Seine Stimme erstarb. Vom Bett aus tastete eine kleine, heiße Hand zu ihm. Er nahm sie in seine Hand, hielt sie fest und spürte, wie er zitterte. »Aber … Barbara«, stotterte er.
»Sie heißt Erika Barbara Helga Schwabe. Wir rufen sie Barbara, weil … weil es deine Mutter so schön fand.«
»Mutter.« Schwabe drückte die kleine, heiße Hand an seine Hüfte und streichelte sie mit den Fingerspitzen. »Wo ist sie?«
»Unten. Sie wagt nicht, heraufzukommen. Sie hat Angst, du jagst sie weg.«
»Angst? Meine Mutter?« Schwabes Stimme erlosch. »Bin ich denn ein Untier?«
»Ja.«
Er senkte den Kopf und sank auf den Stuhl zurück. Das heiße Händchen entzog sich seinen Fingern. Dafür schlangen sich zwei dünne Ärmchen um seinen Hals, und ein schweißnasses Köpfchen mit zerwühltem Haar drückte sich an sein Gesicht.
»Warum bist du plötzlich so traurig, Onkel Erich?«
Durch Schwabe lief ein neues, heftiges Zittern. Er warf die Arme um den kleinen Körper und preßte ihn an sich.
»Sie nennt dich Onkel«, sagte Ursula. »Solch ein Untier bist du.«
»Ursula«, schrie Schwabe. Die Qual zerbrach alles in ihm, was er in drei Jahren aufgestaut hatte. Er umklammerte den Körper des Kindes so, wie ein Ertrinkender mit unmenschlicher Kraft sich an ein treibendes Holzstück krallt. Und dann küßte er das heiße, fiebrige Gesichtchen, immer und immer wieder, und plötzlich weinte er, und während er schluchzte, tastete er das Gesicht seines Kindes ab, so wie ein Blinder, der jede Erhebung, jede Rundung, jede Vertiefung mit den Fingerspitzen unlöschbar in sich aufnimmt.
»Mami,
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